Koautorin: Dr. Ilona Salz
(Veröffentlicht in: Elternhaus und Schule, Heft 11/1985, S. 8 – 9)
Nun geht Thomas schon einige Wochen zur Schule. Er ist ein fröhliches, ausgeglichenes Kind und hat sich sehr auf die Schule gefreut. Die Kindergärtnerin war zuversichtlich, was Thomas‘ künftigen Schulerfolg angeht Sie lobte seine Fähigkeiten im Umgang mit anderen Kindern und vor allem seine ausdauernden und phantasievollen Spiele. Thomas‘ Mutter ist dagegen etwas skeptisch. Was die Kindergärtnerin an Thomas so hervorhebt, erscheint ihr eher als ein Problem. , Thomas ist ihr ganz einfach noch zu »verspielt«, und sie befürchtet daher, daß er nicht so leicht die rechte Einstellung zum schulischen Lernen finden wird. Hat die Mutter mit diesen Bedenken recht? Sind Spielen und Lernen überhaupt Tätigkeiten, die einander ausschließen? Dr. Ilona Salz und Dr. Harald Pätzolt geben Antworten auf diese Fragen.
Das Spiel ist die Haupttätigkeit des Vorschulkindes. Es ist das entscheidende Feld für seine Persönlichkeitsentwicklung. Daher trägt es die Potenzen für die Herausbildung vieler wesentlicher Fähigkeiten und Tätigkeitsformen in sich, die ein Kind für seine weitere Entwicklung braucht. Das gilt auch für die geistigen Fähigkeiten und deren Voraussetzungen: Erkenntnistätigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und Leistungswillen.
Den ganzen Reichtum der Weit erschließen
Wie mannigfaltig ist die Welt die unsere Kinder umgibt! Und wie schnell entdecken sie im Spiel die Vielfalt der Dinge! Schritt für Schritt erkennen sie spielend ihre Umgebung.
Kinder finden zunächst ganz handgreiflich und mit allen Sinnen heraus, daß die Dinge bestimmte Merkmale (Form, Farbe, Geruch…) haben, die ihnen bestimmte Eigenschaften verleihen. Florian (1 Jahr und 6 Monate) bringt dem Vater freudestrahlend das große Holzauto. In der Rechten hält er das demontierte Rad. Und mit einem festen »Da!« weist er auf die Stelle, an die es gehört. Kein Grund zum Ärgern – der kleine Sohn hat wieder einen Zusammenhang erkannt. Lange schon weiß er, daß runde Gegenstände wie Kugeln am Laufgitter oder der Ball rotieren und sich drehen lassen. Auch die Räder am Auto hat er so schon in Besitz genommen. Oft dreht er das Auto um und läßt die Räder rotieren. Bald nach der Demontage wird er erkennen, daß »Räder dran« und -Auto fahren« irgendwie zusammen gehören. »Auto kaputt« heißt dann nicht nur »Rad ab«, sondern »fährt nicht«.
Die Tochter bringt die zerlegte Plastepuppe. Das Kind weiß, wo die Beine hingehören, daß sie sich bewegen und entfernen lassen. Es wird entdecken, daß die Puppe nun nicht mehr »laufen« kann. Und bald wird es auch den Schmerz der Puppe beklagen. Weich ein Fortschritt: Von der Entdeckung weniger äußerer Merkmale und ihres Zusammenhangs mit der Funktion der Dinge, der Übertragung auf ähnliche Gegenstände bis zur Einsicht in die entscheidenden Merkmale und die eigentlichen Verwendungsweisen.
Im Spiel sind Erlernen des Gebrauchs, der Funktion der Dinge und das Umfunktionieren, das Für-anderes-Gebrauchen sowie Dinge und ihr Umstrukturieren, Zu-anderem-Machen eins.
Die Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Form einer Flasche beispielsweise und ihrem Zweck erscheint im geschickten Umgang der Puppenmutter mit der Brauseflasche als Babyflasche ebenso wie im Einsatz von Schachfiguren in der Getränkeabteilung des Kaufmannsladens.
Wie gelingt den Kindern so spielend der phantasievolle Einsatz des Erkannten? Schaffen Kinder eine Spielsituation, ordnen sie beliebige Dinge in diese Situation ein, so vollbringen sie damit eine wunderbare Verwandlung – sie verwandeln die Dinge, den Raum,. sich selbst. Solche Wandlungen erleben Kinder fast überall. Im Buddelkasten entstehen ein Berg, ein Kuchen – im nächsten Augenblick sind sie verschwunden. In der Wanne, am See spielt das Kind mit dem nicht minder interessanten Wasser. Eben noch da, entschwindet es durch ein Loch am Boden der Wanne. Da tritt es aus dem Wasserhahn! Eben noch ein Strahl, ist es nun eine Pfütze. Die Puppe im schönsten Kleid eben noch »spazieren« – nun ist sie ausgezogen und wird gewaschen. Eben noch Bauarbeiter, der aus einem Haufen Klötzer eine Garage entstehen ließ, verwandelt Klaus als »Hund« laut bellend alles wieder in ein Trümmerfeld. Das Kind lernt also nicht nur die Dinge und Vorgänge, Personen und Handlungen kennen, sondern es findet dies alles immer in Situationen vereint. Es lernt, Dingen Merkmale und Eigenschaften, Personen Handlungen und Handlungsfolgen zuzuordnen. Im Rollenspiel beweist das Kind, daß es all dies beherrscht. Dabei zeigt sich nicht nur eine enorme Einsicht in den Alltag, sondern auch die Fähigkeit des Kindes, seine eigene Handlung zu regulieren. Es kann Dinge und Personen in ihrem Zusammenhang sehen, sie herauslösen und im Spiel in einen neuen Zusammenhang bringen. Es erkennt und verwandelt alles im Spiel. Phantasie und Einsicht wirken hier zusammen.
Konzentration und Ausdauer im Spiel
Aus der Fülle des täglichen Erlebens entstehen den Kindern die besten Spielideen. Und mit Ideenreichtum und Phantasie gestalten sie ihre Spielsituation. Das Spiel selbst ist das Motiv des spielenden Kindes. Und wie stark es sich: auf sein Spiel konzentriert, wie ausdauernd es spielt, kurz: wie motiviert es ist, das hängt wesentlich von der Güte seiner Spielidee und der Kraft seiner Phantasie ab. Häufig sehen wir Kinder, die hektisch von einer Ecke in die andere ziehen. Frank greift hier nach einem Eimer, um ihn rasch wieder fallen zu lassen und woanders beim Häuserbau mitzumachen. Plötzlich sieht er ein Dreirad und schwingt sich drauf. Seine Spielideen sind rasch erschöpft. Ute geht in der Puppenecke mit Elan zu Werke. Doch dann sind keine Tassen da und sie gibt das Spiel sofort wieder auf. Ihr fehlt die Phantasie, ihre Spielidee umzusetzen. Andere Kinder beschäftigen sich lange mit einer Sache, legen die ganze Spielzeit über ein Muster oder schieben Bausteine hin und her. Sie scheinen ganz bei der Sache zu sein. Doch man sieht ihnen an, daß es ein lustloses Treiben ist: keine Phantasie, keine Spielideen – keine vom Eifer geröteten Kinderwangen. Wie aber entwickelt sich Eifer beim Spielen? Die meisten Spiele des Kleinkindes bestehen im Manipulieren von Gegenständen. Es betastet und beleckt einen Würfel und erkundet so seine Oberfläche. Dann schlägt es mit dem Würfel auf den Tisch oder den Fußboden und lauscht dem entstehenden Geräusch nach. Doch die Möglichkeiten der meisten Spielzeuge sind in diesen Funktionsspielen rasch erschöpft. Das Kind läßt sie nun achtlos liegen und verlangt nach anderen Dingen, die seine Neugier zu wecken vermögen. Interessant bleibt ein Gegenstand nur solange, wie es noch etwas Neues daran zu »begreifen« gibt. Die Dauer dieser frühen Spiele und das Ausmaß ihres Lerngewinns sind also noch stark vom Anregungswert der Spielmaterialien abhängig.
Beginnt das Kind dann später Rollenspiele, entsteht ein ganz neues Spielverhalten. Die Spielgegenstände ordnen sich der Spielidee unter, werden erst durch sie interessant. Es kann passieren, daß bereits verworfene Spielzeuge wieder zu Ehren kommen. Daniels Holzeisenbahn hatte lange in der Ecke gelegen, weil dem Zweijährigen das Hin- und Herrollen zu langweilig wurde.
Doch nun ist der inzwischen Vierjährige Verladearbeiter und Zugführer in einer Person. Sein Spiel mit der Bahn ist ausdauernder und intensiver geworden. Er paßt beim Beladen auf, daß nichts vorbeifällt, und hält beim Fahren eine ganz bestimmte Strecke ein. Selbst wenn während der Fahrt einige »Güter« immer wieder vom Wagen fallen, wird er nicht ungeduldig, sondern bemüht sich unverdrossen, sie noch geschickter zu stapeln.
Indem es sich in eine Spielsituation versetzt, motiviert sich das Kind zu Ausdauer,- und Geschicklichkeitsleistungen, die es sonst kaum zeigt. So erklärt sich auch, warum Kinder oft aus einer beliebigen anderen Tätigkeit ins Spiel verfallen. Julia hilft der Mutter Geschirr abtrocknen. Anfangs ist ihr Eifer groß, denn Julchen hilft gern. Doch angesichts des reichlich großen Geschirrbergs nimmt der Eifer mit der Zeit ab, und ihre Bewegungen werden immer langsamer. Plötzlich wird sie wieder ganz flink, und die Mutter bemerkt, wie Julia während des Abtrocknen leise vor sich hin spricht. Julia hat die Situation umgedeutet. Sie selbst ist nun die arbeitende Mutter und verspricht ihren unsichtbaren Kindern Pudding und einen Spaziergang, wenn die Arbeit beendet ist. Dieses »Spiel nebenbei« gibt ihr die Ausdauer zurück. Da solches Verhalten also durchaus sinnvoll ist, wäre es verständnislos, das Kind dafür zu tadeln (etwa durch die Frage: »Trocknest du nun ab oder spielst du?«). Helfend eingreifen muß man nur, wenn das Kind über dem Spiel tatsächlich sein ursprüngliches Ziel aus den Augen verliert. Kinder, bei denen das häufig geschieht, sind jedoch oft auch in ihren Spielen wenig ausdauernd und leicht ablenkbar. Im Spiel erworbene Ausdauer und Konzentration übertragen sich dagegen meist auch auf andere Tätigkeiten.
Die Spiele der Kinder achten
Ob ein Spiel gelingt, das hängt also von der Güte der Spielidee, der Phantasie beim Gestalten der Spielsituation und der Fähigkeit ab, sich in das Spiel zu vertiefen. Spiele sind anstrengend und erschöpfend, sie erfordern vom Kind beträchtlichen physischen und psychischen Aufwand und Einsatz. Eltern merken leicht, ob ihr Kind sich »ausgespielt« hat. Kinder sind zu Recht stolz auf ihre spielerische Leistung. Sie zeigen nicht nur ihre Bauwerke und Zeichnungen her, sie erwarten auch Anerkennung, wenn sie vom »Eisenbahnspiel« oder von Bewegungsspielen berichten. Noch viel weniger als beim Fußball zählt hier das Ergebnis. Klaus will nicht ausgelacht werden dafür, wie er sich als Puppendoktor ausstaffiert hat. Er identifiziert sich mit seiner Rolle, nimmt sie ernst und sorgt aufopfernd für seinen kranken Teddy. Und Anne ist es ganz und gar nicht recht, daß Mutti sie zum Essen ruft, wo sie doch gerade die Tiere aus ihrem Spielzeugzoo vor dem »Regen« in Sicherheit bringen will. Spiel ist keine bloße Spielerei, die beliebig unterbrochen werden kann. Die Kinder merken sehr gut, ob ihre Eltern und Erzieher sie in ihrem Spiel ernst nehmen und achten, ihr Engagement anerkennen. Die Wertung, die das Kind ständig von seiner Umgebung auf sein Spiel erfährt, prägt den Leistungswillen, die Anstrengungsbereitschaft nachhaltig. Erhält es zu wenig Aufmerksamkeit, wird es versuchen, diese auf anderen Gebieten als dem Spiel zu erringen. Dann kann leicht passieren, daß es sich im Spiel andern Kindern gegenüber nicht mehr kooperativ verhält, ihm selbst »Spielen« unwichtig erscheint. Unsere Erfahrungen zeigen, daß Kinder, die die Chancen des Spiels nicht voll nutzen konnten, sich auch in der Schule nicht sonderlich hervortun. Es gibt keine bessere Vorbereitung auf die Schule als das fröhliche, unbeschwerte Kinderspiel, das auch die »Großen« noch lange begleiten wird.