(Veröffentlicht in: Elternhaus und Schule, Heft 3/1986, S.23)
Spiele der Kindheit und Jugend – wer wüßte nicht ihren Wert und ihre Schönheit zu loben? Jeder weiß, daß das Spiel unserer Kinder auch zu einem Problem für Eltern und Erzieher werden kann – wenn es zur Unzeit stattfindet. Doch selbst in solchen Situationen, in denen Kinder spielen, es aber eigentlich nicht sollen, kann man einiges über die Möglichkeiten des Spiels für die geistige Entwicklung der Kinder lernen, meint Dr. Harald Pätzolt.
Lars (Klasse 5) ist beauftragt worden, den Klassenraum auszufegen. Das dauert, denn im Moment ist er damit beschäftigt, Jonglierkunststücke mit dem Besen zu probieren.
Anke (Klasse 7) folgt der Wiederholung des Mathematikstoffes nicht. Kurz nach Beginn der Stunde verwandelte sich ihr dicker Filzstift in eine Rakete, auf dem Taschenrechner läßt sie den Countdown laufen.
Auch Eltern von Vorschulkindern wissen ähnliches zu berichten. Uwe (5 Jahre) kommt nicht vom Waschen aus dem Bad zurück. Erst als er den Wischlappen holt, wird den Eltern klar, daß Uwe mal wieder das Wasser »umgeleitet« hat.
Julia (3 Jahre) legt sich nach der Morgentoilette auf den Teppich und verkündet: »ich bin das Baby, und du mußt mich anziehen!« Mütter und Väter, Omas und Opas, Lehrer und Erzieher wissen in der Regel, wie sie mit solchen Situationen fertig werden. Die Wahl der Mittel hängt hierbei ganz vom Alter und von den Eigenarten der entsprechenden Kinder und Jugendlichen sowie von der Situation ab. Bei Lars reicht vielleicht schon das Auftauchen des Lehrers, um ihn an seine Pflicht zu erinnern. Anke kann durch eine kurze Frage der Lehrerin wieder am Unterricht beteiligt werden. Bei Uwe, der gewöhnlich stolz ist auf seine Selbständigkeit, wird am nächsten Tag die freundliche Erinnerung an den »Vorfall« reichen. Und die kleine Julia verzieht man gewiß nicht, wenn man einmal auf ihr Verlangen eingeht.
Aber sind wir Erwachsenen nicht auch schon gelegentlich ins Spielen geraten, obwohl wir ganz anderes vorhatten? Mutter wollte »bloß« den entgleisten Wagen wieder ankuppeln – schon war sie mit dem Sohn beim Modelleisenbahnspiel vereint. Und in den sommerlichen Parks beim Freiluftschach oder bei Brettspielen – wie viele von den kundigen Kiebitzen wollten >>bloß<< mal kurz spazieren oder etwas einkaufen und sind nun in der Zuschauerrolle gefangen!
Was ist all diesen Situationen gemeinsam? Erstens tritt das »Eigentliche«, die ursprünglich beabsichtigte Handlung mit Ernstcharakter, in den Hintergrund. Zweitens fallen die Akteure in die sogenannte Spielhaltung. Drittens wird die ursprüngliche Situation umgedeutet. Personen und Dinge verwandeln sich, erscheinen in einem anderen Lichte. Und darin zeigt sich ein ganz wichtiger Zug unseres Denkens: die spontane Denkbeweglichkeit. Prof. Dr. H.-G. Mehlhorn hat dies als ein Wesensmerkmal schöpferischen Denkens hervorgehoben (Heft 8/85). Einen Gegenstand in ganz andere funktionale Zusammenhänge eingliedern als in die sonst allgemein üblichen – das beherrschen Kinder in der Regel dank der Spontaneität ihres Denkens und deren Übung im Spiel verblüffend gut. Damit tatsächlich in der weiteren Entwicklung eine Flexibilität des Denkens entsteht, die zu Schöpfertum befähigt, ist es aber auch notwendig, daß die Kinder lernen, welche Gegenstände mit welchen Funktionen verbunden sind. Der Gebrauch des Löffels wie der des Besens muß erlernt werden. Freilich heißt das nicht, daß Löffel nur zum Löffeln, Besen nur zum Kehren da sind. In anderen Situationen als denen des Essens oder Fegens, speziell im Spiel, können Löffel ganz gut zu Musikinstrumenten und Besen zu Sportgeräten werden. Also ist beides wichtig: Die genaue Kenntnis der üblichen Gebrauchseigenschaften der Dinge um uns und die Fähigkeit, neue Gebrauchsmöglichkeiten an den Dingen zu entdecken. Wir tun als Eltern, Großeltern und Erzieher gut daran, zu kritisieren, wenn die Kinder am unrechten Platz oder zur falschen Zeit spielen. Dabei ist aber das Verhalten der Kinder und Jugendlichen als der jeweiligen Situation unangemessen zu werten und nicht in Bausch und Bogen zu verbieten. Also: Beim Essen wird nicht gespielt. Das heißt aber nicht, daß >>man<< mit dem Löffel nicht spielen darf. Es stimmt nicht, daß »man« mit dem Besen nicht jongliert. So gesehen, bedingen sich Disziplin des Denkens und Handelns und schöpferisches Denken gerade, schließen sich nicht etwa aus. Anne, die dem ratlosen Vater mit dem zerbrochenen Schneeschieber in der Hand die alte Schaufel aus dem Keller präsentiert, hätte dies nie vollbracht, wenn sie in der Schaufel nicht auch den (möglichen) Schneeschieber gesehen hätte. Und: Hätte Archimedes seinerzeit »nur« gebadet und Newton nichts als einen schlichten Apfel fallen sehen, wäre die Menschheit um Wesentliches ärmer.