(Veröffentlicht in: form + zweck, Fachzeitschrift für industrielle Formgestaltung; 6/1988, S.13 – 16)
Grenzen von Spiel
Gesellschaftlich gestaltete materielle Umwelten sind Gegenstand individueller Aneignung und individuell gestaltenden Gebrauchs. Ästhetisches vermittelt in dieser Interaktion. Dieser Zusammenhang soll am Beispiel der universellen Verhaltensform des menschlichen Spiels verdeutlicht werden. Aus aktuellem Anlaß ist der kulturelle Bereich, auf den ich mich dabei beschränken will, der des Militärischen. Für einen auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters und in der psychologischen Friedensforschung Tätigen ist diese Problematik von besonderem Interesse.
Das Kindergeschenk einer lila Wasserpistole etwa, kürzlich in meinem Familienkreis aufgetaucht, war in seiner Anmutungsqualität zunächst beinahe annehmbar. Mehr und mehr artikulierten sich jedoch Irritationen auch im Bekanntenkreis.
Nicht sehr viele Themen aus dem Bereich der Erziehung werden so kontrovers diskutiert wie das des Sinns oder Unsinns von militärischem Spielzeug. Die Verantwortung für Entscheidung über Sinn oder Unsinn liegt beim Erwachsenen. „Das Spielzeug ist, auch wo es dem Gerät der Erwachsenen nicht nachgeahmt ist, Auseinandersetzung, und zwar weniger des Kindes mit dem Erwachsenen, als der Erwachsenen mit ihm. Wer liefert denn zu Anfang dem Kinde sein Spielgerät wenn nicht sie?”[1] Die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach der Stellung derartiger Gegenstände im kulturellen Raum, in dem die Ontogenese des Menschen sich heute vollzieht, muß also im kulturellen Raum der Erwachsenen beginnen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Faszination von Spielzeug und Spielzeuggebrauch und der Faszination der Waffen und des Waffengebrauchs? In allen gerüsteten Gemeinwesen ist das Militärische ein Teil der Kultur. Es bildet eigenständige gesellschaftliche Bereiche wie Armee, Polizei usw. Diese Bereiche sind mit den übrigen Bereichen gesellschaftlichen Lebens auf vielfältige Weise verwoben. Darüber hinaus präsentiert sich Militärisches in anderen gesellschaftlichen Bereichen, in der Öffentlichkeit (etwa im Straßenverkehr), in den Medien, in der Kunst.
Nicht immer so sichtbar ist die Tatsache, daß das Militärische aus historischer Entwicklung und aktueller Notwendigkeit heraus eine besondere Beziehung zu einigen speziellen gesellschaftlichen Bereichen besitzt. Dazu zählen der Sport und die Jagd. Die Verbindung stellen einmal wesentliche Elemente der sie konstituierenden materiellen Umwelten her, zum Beispiel Waffen. Zum anderen weisen Verhaltensweisen der in diese Räume eindringenden Individuen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, etwa der Waffengebrauch. Durch die Gestaltung spezieller materieller Umwelten wie durch das Verhalten in diesen werden also auch die Verbindungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Verhaltensräumen hergestellt. Das Ästhetische vermittelt somit auch zwischen derartigen Verhaltensräumen. Dem wollen wir zunächst nachgehen.
Zur Ästhetik des Militärischen
Durch die Kulturgeschichte hindurch haben sich auch in unserem Land Artefakte gewaltsamer Konfliktlösung angesammelt. Diese Kulturgüter unterliegen heute unterschiedlichster Nutzung. Waffen, Kriegsgerät und Uniformen sind als Zeugnisse vergangener Kulturen in Museen zu finden. Einen Teil davon, etwa Hieb- und Stichwaffen, kann man in Antiquitätenläden kaufen. Waffenkunde ist eine Wissenschaft. Internationale Vereinswesen bringen Liebhaber derartiger Objekte zusammen. Entsprechende Zeitschriften erscheinen oder Prachtbildbände über Uniformen und Schützenwaffen der Vergangenheit und Gegenwart. Sammler und Modellbauer reproduzieren diese Objekte in Plaste und Zinn. Privates wie öffentliches Interesse und Engagement sind groß.
Ästhetische, gestalterische Gesichtspunkte spielen bei den genannten Formen des Umgangs mit militärischen Gegenständen eine beträchtliche Rolle. Das gilt für die Präsentation der Objekte in Museen, Schaufenstern und Wohnräumen ebenso wie für die getreue Nachbildung historischer Schlachten mit lebenden Figuren in entsprechender Ausrüstung, wie sie gelegentlich gepflegt wird.
Auch Sport, Körperkultur und Körperertüchtigung haben eine traditionelle Beziehung zum Militärischen. Dabei bildet der Sport vom Leistungs- bis zum Freizeitsport einen durchaus eigenständigen Bereich. Gewehr, Bogen oder Florett sind im Leistungssport sicher weniger nach ästhetischen als nach praktisch-technischen Gesichtspunkten gestaltet. Gleichwohl haben sie für den Akteur wie für den Zuschauer ästhetisch wertige Gestaltqualitäten.[2] Das sieht für den Freizeitbereich schon anders aus. Hier wird nach anderen ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet, werden Gestaltqualitäten ästhetisch determiniert. Gutes Design entscheidet mit über den Absatz.
Eine Eigenart weisen die sogenannten Kampfsportarten auf. Beim Boxen oder bei asiatischen Kampfsportarten werden die Körperorgane selbst als Waffen genutzt. Gestaltung und Präsentation des menschlichen Körpers formiert hier eine Ästhetik des Kämpfers. Neben dem Sport spielen Waffen in der Jagd eine besondere Rolle. Auch hier ist die positive Beziehung zur Waffe ästhetisch vermittelt. Spezielle Hölzer und Edelmetalle, der Einsatz des Ornaments, Schnitzerei und Ziselierung sind geforderte Gestaltungsmittel zur Ästhetisierung des Gebrauchs.
Waffen und Ausrüstungen im militärischen Bereich selbst unterlagen schon frühzeitig der Auseinandersetzung um ihre Gestalt. Hermann Muthesius, der im Typisierungsstreit im Deutschen Werkbund die Problematik Typ oder Individualität auch für den militärischen Bereich behandelte, sah 1917 die Tendenz so: “Das Heer legt die glitzernden und bunten Uniformen ab, die noch aus früheren Jahrhunderten stammen, und nimmt Feldgrau auf.”[3] Die in diesem Bereich dominierenden Gestaltungsgrundsätze sind in unserem Jahrhundert nicht mehr auf Individualisierung hin bestimmt. Wie in anderen Bereichen bricht jedoch auch hier die Tendenz zur individuellen Nach-Gestaltung durch. Bekannt sind zum Beispiel Bilder von Kampfflugzeugen mit eigenartiger Bemalung. Am prägnantesten sichtbar wird dieses Phänomen vielleicht an der Art und Weise der Modifikation von Uniformen. Das reicht von der Trageweise bis hin zu stark symbolträchtigen Änderungen einzelner Uniformteile.
Auch in diesem Bereich vermitteln ästhetische Aspekte nicht nur das Verhältnis der agierenden Individuen zum Militärischen, sondern auch durch die genannte Präsenz des Militärischen in der Öffentlichkeit – das Verhältnis der sich nicht in diesem Bereich befindlichen Individuen zu demselben. Seinen absichtsvollen Ausdruck findet dies in öffentlich stattfindenden militärischen Zeremonien.
Die Kulturgeschichte der Waffen schließt auch eine Kulturgeschichte der Darstellungen von Waffen und Waffengebrauch ein, was Kunst ebenso wie Geschichtsschreibung oder Medien betrifft. Das Spektrum der ausgedrückten Wertungen reicht von der generellen Ablehnung des Gebrauchs von Waffen, der Gewalt auf der einen Seite über die interessengeleitete positive Wertung des jeweils eigenen oder für richtig befundenen Einsatzes bis zum Kult der Gewalt, des Waffenganges, des Kampfes auf der anderen Seite. Eine ähnliche Bandbreite der Wertungen von Waffengebrauch und Körpereinsatz ist von Aktiven wie Zuschauern im Sport zu finden. Die Urteile reichen von Ablehnung bestimmter Kampfsportarten über interessierte, “faire” Anteilnahme (“ein schöner Aufwärtshaken”, “ein guter Schuß”, die Rede ist vom “Ästheten im Ring”) bis zur klaren, den Bereich des Sports überschreitenden Befürwortung brutaler Gewalt (verkörpert durch einige westliche Profisportarten oder Ausschreitungen von Fußballrowdys).
Eine Besonderheit des militärischen Bereichs besteht darin, daß der Waffengebrauch zum größten Teil nur ein übender ist. Aber auch diese Tätigkeit wird häufig lustvoll erlebt, trägt oft Wettkampfcharakter und wird emotional positiv sanktioniert. Der “scharfe Schuß” ist gegenüber dem Zieltraining der absolute Höhepunkt im Waffengebrauch. Gute Schützen kennzeichnen sich mit bestimmten Symbolen wie der Schützenschnur. Auch auf der Verhaltensseite vermittelt also die Ästhetisierung des Waffengebrauchs zwischen Akteur und Umwelt wie zwischen den Bereichen selbst.
Die genannten Verhaltensweisen sind bezogen und begrenzt auf definierte Lebensbereiche mit stark ritualisiertem und geregeltem Charakter. Von Interesse daran ist die Schwierigkeit, diese Grenzen des Waffengebrauchs, diese Regeln einzuhalten. Was die Trennlinien zwischen Sport, Jagd und militärischem Bereich durchbricht, soll im folgenden gezeigt werden. Am eindrucksvollsten ist das vielleicht im Sport, auf der Seite der Aktiven wie der Zuschauer. Eine Boxveranstaltung etwa offenbart nicht nur im Ring unfaire Attacken, also verbotene Gewalt gegen den Gegner, sondern auch lustvolle Eskalationen im Publikum. Auch Fouls im Fußball sind meist nichts anderes als rohe Gewalt, und Sprechchöre auf den Tribünen machen deutlich, was ein Teil der Zuschauer erwartet: Gewalt. Nicht Ausmaß oder Ursachen dieser Prozesse sind hier interessant, sondern die Notwendigkeit, gesellschaftlich gesetzte Grenzen bereichsspezifischen Handeins zu sichern. Das auch ästhetisch relevante Problem liegt in der Übertragbarkeit von Verhaltensmustern. Wenn bestimmte materielle Umwelten durch gestalterische Mittel in eine Nähe gerückt werden, etwa durch Symbole, entstehen Möglichkeiten für Übertragungen. Nicht zufällig fanden und finden Waffen immer wieder Bezeichnungen, wie Jagdflugzeuge, Jagdpanzer, Panzerjäger, tragen Panzer Namen, wie Leopard, Tiger, Panther, heiße Geschosse “Bussard”, gibt es “Torpedofänger” und anderes mehr.
Fließend gestaltete Grenzzonen zwischen den Verhaltensräumen sind beispielsweise von Seiten des Sports der Wehrsport und von Seiten des Militärs Teile der Ausbildung mit ausgesprochenem Wettkampfcharakter.
Die Entwicklung der Technik verdeckt ebenfalls Spezifika einzelner Bereiche. Udo Klitzke machte darauf aufmerksam, daß sich Zivil- und Militärwesen in ihrer Erscheinung, im Design, vielfach angleichen. “Eine eindeutige Zuordnung bestimmter Militärwaren ist im Unterschied zu der Zeit der Technisierung der Militärwaren zu Beginn dieses Jahrhunderts und der folgenden Jahrzehnte über die sinnliche Erscheinung nicht mehr eindeutig möglich,”[4] Und er konstatiert, daß das Soldatsein, über die Gestaltung der Waffen vermittelt, so nicht mehr als Bruch mit dem Gewohnten verstanden wird.
Zusammenfassend spielen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bestimmte Gegenstände (Waffen, Gerät und Ausrüstung) eine Rolle, die zu einer Klasse von Gegenständen im Bewußtsein der damit agierenden oder den Gebrauch beobachtenden Menschen zusammengefaßt werden können. Dies gilt auch für sehr komplexe Verhaltensweisen wie die des Waffengebrauchs. Diese Klassenbildung und damit die Möglichkeit entsprechend gleichartiger Reaktionen in verschiedenen Verhaltensräumen kann durch die Existenz von Zwischen-Räumen mit Übergangscharakter und durch die mehr oder weniger absichtsvolle symbolische Gleichsetzung oder gestalterische Angleichung materieller Umwelten und der Verhaltensmuster befördert werden.
Kinderspiele zwischen zwei Welten
Spiel, als besondere Interaktionsform, ist im militärischen Bereich von Bedeutung. Zunächst wären da die klassischen Spiele wie Karten-, Brett- und Sportspiele zu nennen. Sie finden meist in den Pausen militärischen Geschehens statt und vermitteln dieses insofern. Interessanterweise wird aber auch recht ausgedehnt mit militärischem Gerät und mit Waffen “herumgespielt”. Ein anderer Spieltyp ist besonders aus dem ersten Weltkrieg bekannt. Während der stagnierenden Stellungskämpfe an der Westfront, die dieser Kriegsphase den Namen “Komischer Krieg” (!) eintrugen, neckte man sich gewissermaßen, hielt Gegenstände aus dem Graben, auf die der Gegner dann schoß, und man kommunizierte miteinander. Im nächsten Augenblick konnte aus dem Spielpartner wieder der dahin zu schlachtende Feind werden. Hier wurde die Situation spielerisch umgedeutet. ohne daß der militärische Inhalt verloren ging. Aus militärischen Führungen sind ganz analoge Vorgänge bekannt. Die Strategen sitzen sich quasi am Schachbrett gegenüber, versuchen zu täuschen und den nächsten Zug des anderen zu erraten.
Auch während der Auseinandersetzung über den Vietnamkrieg spielte dieser Aspekt in den USA eine Rolle. So schrieb Tom Wicker in der New York Times vom 20.4. 1972: “Die Täter (gemeint ist das Pentagon – d. A.) scheinen den Krieg nicht mehr als Krieg zu betrachten, sondern wie einen Spieltisch: seine Bomben sind nur noch Signale, seine Toten hoben mit dem Leben nichts zu tun.” Der Psychologe Erik H. Erikson kommentiert die Anwendung von Spieltheorie und Modellbau in der Kriegsführung folgendermaßen: “Wir bezweifeln hier nicht den technischen Wert von Manöverplänen in den Händen geschulter, verantwortungsbewußter Fachleute. Worauf es ankommt, ist vielmehr die ,natürliche’ Macht, die Manöverpläne auf jene ausüben, die unbedingt glauben wollen, daß ihre technischen Möglichkeiten sie realer machen als die Realität.”[5]
Die ästhetische Vermitteltheit der Beziehung zu Waffen und Waffengebrauch sowie die spielerische Dimension der Beziehung verweisen auf die Ontogenese der entsprechenden Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster. Schlaglichtartig wird die Brisanz dieses Bezugs angesichts eines Dokumentes der US-Militärs “AIRland Battle 2000” deutlich: “Insbesondere der jüngere Teil unserer Bevölkerung gewöhnt sich zunehmends an eine Video-Display- und Computerspiele-Umwelt. Die Waffensysteme der Zukunft müssen diesen Trend ausnutzen.”[6] Auf den anfangs zitierten Satz von Walter Benjamin zurückkommend, stellt sich die Frage, inwiefern – absichtsvoll oder nicht – diese Welt der Erwachsenen in die der Kinder hineinreicht. Erik H. Erikson hat das Problem aus der Sicht der Kinderpsychologie so formuliert: “In der Spielzeugwelt wird es wichtig, dos das Kind – neben der Entdeckung, welchen Sinn man Dingen geben kann – auch lernt, wie man die
Dinge in ihrer Struktur auch verändern kann, was in der Phantasie erlaubt und was in der sozialen Umwelt der Spielgefährten als annehmbar gilt und was tatsächlich von den erwachsenen Wächtern sanktioniert wird. Diese verschiedenen Spielformen durch Kindheit und Jugend zu beobachten würde demnach auch bedeuten, daß man zeigen muß, wie Spielbereiche und Spiele in zunehmendem Maße in das Gebiet verantwortlichen, irreversiblen Handeins hineinreichen.”[7]
Im kindlichen Spiel bedeutet Interaktion von Individuum und Umwelt das Zusammenspiel von spielerischer Gestaltung materieller Umwelten zu fiktiven Spiel-Räumen und der gesellschaftlich gestalteten materiellen Spielräume der Kinder. Kinder spielen bekanntermaßen unverhältnismäßig oft Zugunglücke, Unfälle, Katastrophen. Derartige Ereignisse hinterlassen einen besonderen Eindruck, sind im wirklichen Sinne “Geschehnisse”, Erlebnisse. Sie bedürfen der Verarbeitung, denn es paßt nicht in das gewohnte und erwartete Bild von einem Auto, daß es zerquetscht ist, oder von einem Zug, daß er von der Brücke stürzt. In der Psychologie als kognitive Dissonanz bezeichnet, heißt das, die gleichzeitige Existenz von Bewußtseinsinhalten, die nicht miteinander vereinbar sind, drängt die Person dazu, diese Unstimmigkeiten abzubauen (Dissonanzminderung). Eine Möglichkeit, diese neuen Informationen in das bisherige Bild zu integrieren, ist das Spiel. Auch hier erfährt das Kind früh die Möglichkeit, den einmal erlebten Lustgewinn immer wieder zu erlangen. Das Auto verunglückt immer wieder. Kinder verspüren, wie eh. Büttner feststellte, dieselbe Spannung, die Millionen Erwachsene Tag für Tag erneut auf die Gewalt im Fernsehen warten läßt.[8] Schon Walter Benjamin fiel die Merkwürdigkeit auf, daß spezielles “Katastrophenspielzeug” produziert wird, das beim fälligen „Unglück” dann in Einzelteile zerfiel.[9] Dieser Vorgang der spielerischen Realitätsbewältigung durch die Erlebnisverarbeitung, durch spielerische Nachgestaltung und die beständige Reproduktion derartiger Vorgänge zum Zwecke des Lustgewinns reicht bis ins Erwachsenenalter hinein. Zweifellos haben wir es dabei mit einer spielerischen Eingewöhnung in konflikt- und gewaltträchtige Realitäten zu tun. Der Unterschied zwischen Spiel und Realität, zwischen Fiktion und Wahrheit bleibt dabei in der Regel bewußt. Mindestens zwei Gründe aber lassen den Unterschied zwischen Spiel und Realität verschwinden. Der eine liegt im fließenden Obergang materieller Umwelten durch Gestaltgleichheit oder Zwischen-Räume. Der andere Grund liegt im psychischen Bereich selbst. Das Spiel ist nicht die einzig mögliche Form der Erfahrungsgewinnung. Doch gerade die anderen Formen sinnvoller Erlebnisbewältigung, die Verhaltensweisen einüben, dem Problem künftig real, nicht nur fiktiv zu begegnen, treten oft in den Hintergrund. Wie erfolgt denn in der Familie die sonstige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tod? Oder in der Öffentlichkeit? Welchen Stellenwert haben Katastrophen im Erziehungsprozeß? Dort, wo Kinder in die engagierte Auseinandersetzung mit solchen Problemen richtig einbezogen werden, erfolgt eine effektivere Verarbeitung als sonst.[10] Im entgegengesetzten Fall können Einseitigkeiten im Weltbild und im Verhaltensrepertoire entstehen. Der Kult der Gewalt, die “Ramboinfizierung der Gesellschaft” etwa in den USA sind Teil reaktionärer Strategien, deren ungeheure Effekte verdeutlichen, welche Macht materielle Umwelten in der Interaktion Kind Umwelt haben. “Umwelten definieren ihre Verwendungsweise.”‘[11]
Spielzimmer in der Wohnung wie in Kindereinrichtungen sind solche Umwelten, die ihre Verwendungsweise definieren. Auch Erik H. Erikson bemerkte dieses Phänomen bei kinderpsychologischen Experimenten: “Angesichts einer bereits allzu vorgefertigten Spielzeug-‘Welt’ schienen die Kinder am eifrigsten darauf bedacht, vorzuzeigen, daß sie das alles in zweckentsprechender Weise zu arrangieren wissen.”[12]. Kinder nutzen Spielzeuge in Abhängigkeit von der Eindeutigkeit, mit der diese gestalterisch, speziell symbolisch, auf bestimmte Verwendungszwecke hin markiert sind. Gestalt determiniert in starkem Maße nicht nur Spielzeugpräferenzen, sondern auch den Gebrauch selbst. Daß mit einem Spielzeuggewehr “geschossen” wird, ist sehr viel wahrscheinlicher, als daß es spielerisch in einen nichtmilitanten Kontext gebracht wird. Diesen Sachverhalt nutzt auch unsere Gesellschaft aus, um erzieherisch Einstellungen und Verhaltensweisen vorzubereiten, die der Landesverteidigung dienen sollen. Das ist legitim. So gibt es im Ausstattungsplan für Unterrichtsmittel der Polytechnischen Oberschulen (Hort) einen beträchtlichen Posten militärischen Spielzeugs. Die erzieherischen Absichten reichen von der Entwicklung technischer Interessen bis zur Herausbildung von physischen und psychischen Voraussetzungen zur Landesverteidigung.
“Umwelten haben ihre natürliche Verwendungsgeschichte, und wir sind Erben dieser Geschichte, wenn wir in ihnen als Teilnehmer fungieren.”[13] Derartige Tradition bestimmt heute auch weitgehend den Bereich der Erziehung in gestalteten Spielwelten militärischen Charakters. Traditionen haben aber die Eigenart, daß man aktuell nie genau weiß, welche realen Effekte die bewährten Methoden haben. Entwicklungen sind auf diesem Felde nicht so leicht zu erkennen, vollziehen sich sehr langsam. Unser gesellschaftliches Erziehungskonzept, das Friedenserziehung und Erziehung zur Wehrbereitschaft verbindet, wird dadurch realisiert, daß systematisch über alle Altersstufen hinweg versucht wird, ein realistisches Bild von unserer von Gewalt und Konflikten, aber auch von Anstrengungen zum Frieden reichen Welt zu vermitteln. Leider weiß man über die psychischen Effekte der dabei angewandten Mittel und Methoden in der Kindheit noch nicht genug. Erste Untersuchungen über das Bild von Krieg und Frieden bei Kindern unterschiedlichster Altersstufen in der DDR haben ergeben, daß der Sachverhalt “Krieg” sich den Kindern früher und komplexer erschließt als der Sachverhalt “Frieden”.[14] Mit diesem Thema sind die Kinder häufiger befaßt als mit dem des Friedens. Diese Unausgewogenheiten bleiben bis ins Erwachsenenalter bestehen. Sie deuten auf reale Verarbeitungslücken und Defizite hin. Ein Effekt ist die heute noch weithin zu registrierende Faszination von Waffen, die ästhetisch wie spielerisch vermittelte emotional positive Beziehung zu Waffen und Waffengebrauch. Diese ist selbst dann vorhanden, wenn Krieg und Gewalt strikt abgelehnt werden. Das heißt, wir haben es mit einer positiven Einstellung zu tun, die weitgehend situationsunabhängig ist. Derartige Einstellungen widersprechen der heutigen Zeit, in der militärische Waffen als “Teufelszeug” gelten. Bestimmte Spiele, bei denen der lustbetonte Gebrauch von Waffen zu militärischen Zwecken assoziiert wird, sollten daher nicht mehr empfohlen werden.[15]
Erziehung muß für eine klare und realitätsangemessene Strukturierung der Bewußtseinsinhalte sorgen. Die Bestimmung der einzelnen Verhaltensbereiche der Gesellschaft und die Beziehung derselben zueinander angemessen abzubilden ist Voraussetzung, ein Verhaltensrepertoire aufzubauen, das dieser Bestimmung jeweils gerecht wird. Das ermöglicht angemessenes, bewußtes Reagieren – auch in Situationen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, Verteidigungsbereitschaft zu demonstrieren.
Materielle Umwelten müssen den Bestimmungen der Verhaltensbereiche entsprechend gestaltet werden sowie klar in ihrer Eigenart – auch sinnlich – identifizierbar sein. Nicht nur auf diese Weise sind die beschriebenen unerwünschten Transfer von Verhaltensweisen über die Bereiche hinweg zu vermeiden, Eine Aufgabe, der wir uns zu stellen haben.
[1] Benjamin, Walter: Spielzeug und Spielen, in: Benjamin, W.: Allegorien kultureller Erfahrung, Leipzig 1984, S. 69
[2] vgl. Kühne, Lothar: Gegenstand und Raum, Dres· den 1981, S. 29
[3] zitiert nach: Kühne, Lothar: a. a. 0., S. 163
[4] Klitzke, Udo: Zusammenhang der Ästhetik der Kriegswaren und der •• Guten Industrieform”, in: Häßler, H.-J./Kauffmann, H. (Hrsg.): Kultur gegen Krieg, Köln 1986, S. 127
[5] Erikson, E. H.: Kinderspiel und politische Phantasie, Frankfurt/M. 1978, S. 16 f.
[6] zitiert nach: Klitzke, U.: a. a. 0., S. 126 7
[7] Erikson, E. H.: a. a. 0., S. 56
[8] zitiert nach: Wilhelmer, B.: Angst und Handlungsfähigkeit?, in: Demokratische Erziehung 2/83, S. 34
[9]vgl. Benjamin, Walter: a. a. 0., S. 70
[10] vgl. Klein, L.: Neugierig und selbstbewußt, in: Marxistische Blätter 1/88, S. 10 ff.
[11] Ittelson, W. H./Proshansky, H. M./Rivlin, L. G./ Winkel, G. H.: Einführung in die Umweltpsychologie, Stuttgart 1977, S. 129
[12] Erikson, E. H., a. a. 0., S. 24
[13] Ittelson u. 0., a. a. 0., S. 130
[14] vgl. Jacob, A./Schmidt, H.-D.: Ontogenetische Veränderungen des Verständnisses und der Bewertung von Krieg und Frieden. Humboldt-Journal für Friedensforschung, im Druck
[15] vgl. Gellen, J./Schmakow, S.: Spielen und Lernen, Berlin 1985