Lohn und Strafe in der Familie

 (Veröffentlicht in: Elternhaus und Schule, 1/1990, S. 12 – 13)

 

Lohn und Strafe als Formen wechselseitiger Bewertung des Verhaltens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Eltern) sind in der Praxis der Familienerziehung in der DDR allgegenwärtig. Merk­würdig, wie wenig darüber mit den Erziehungsberechtigten und ihren Kindern (als künftigen Eltern) gesprochen wird. Wie im Elternhaus mit diesen Erziehungsmitteln umzugehen ist, wird nirgends gelehrt, aber überall gelernt. Wir nennen es soziale Vererbung von Erziehungsstilen, wenn auf diese Weise Traditionen sich erhalten, soziale Erfahrungen und Regelwissen über Umgang miteinander von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Aus vielen Leserbriefen und Ge­sprächen (aus denen ich zitieren werde) ergab sich: Man hat mit Lohn und Strafe in der Familie so seine Erfahrungen. Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend werden wach, man weiß aus eige­nem Erleben „was zieht“. Dabei ist die Bewußtheit im Umgang mit Lohn und Strafe in der eigenen Fa­milie sehr unterschiedlich entwic­kelt. Während die einen eher spontan reagieren, bemühen sich andere, diese Mittel nur in päd­agogischer Absicht zu handha­ben, Von den letztgenannten El­tern gewährten mir einige Einsicht in ihr fein ausgeklügeltes Strafsy­stem, in die abgestuften Mittel zur Exekution elterlicher Gewalt über die unbotmäßigen Kinder. Das geht dort etwa so: zuerst wird das von den Eltern erwünschte Verhal­ten den Kindern mitgeteilt und begründet. Erwartet wird ein Versprechen der Kinder auf Besserung (Gehorsam!). „Natürlich“ hilft das nicht. Daher wird der Strafandrohung beim nächsten Delikt die „leichte Tortur“ folgen: Stubenar­rest, Fernsehverbot, Verbot der Ausübung von Hobbys von Kino, Disco. Auch Taschengeldentzug und Essenverweigerung werden empfohlen. Zeigt der Delinquent sich weiter uneinsichtig, wird ge­raten, ihm die Folge seiner Verfehlung handgreiflich nahe zu bringen: „Ich glaube, eine ordentliche Tracht Prügel tut manchmal Wunder“, schrieb Herr J. aus Berlin. Postalisches Kopfnicken von Frau K. aus Zeitz. Andere Eltern schwören auf „Arbeitserziehung“, worunter sie die gehäufte Erledigung von Arbeitsaufgaben als Mittel der  moralischen Besserung verstehen. So die Familie N. aus Schleusingen und einige andere.           

Lohn und Strafe als Demonstration elterlicher Macht

Es ist interessant, daß Eltern, die zu solch drakonischen Maßnahmen greifen, von ihrem ‚juristischen und moralischen Recht dazu überzeugt sind. Sie handeln ihrem Selbstverständnis nach im Interesse der Gesellschaft, der Familie und vor allem der eigenen Kinder. Allgemein wollen sie die Kinder damit einsichtig machen in bestimmte Notwendigkeiten und sie zu einem bestimmten normativen Verhalten bringen. Die Kinder sollen lernen, was Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit usw. heißen. Daß der Zweck die Mittel heiligt, ist eine Illusion, der sich Eltern um so lieber hingeben, als sie der Entlastung für ihr schmerzendes Tun, der Rechtfertigung vor sich selbst bedürfen. Andere, die „Realisten“, haben derartige Phrasen nicht nötig: „Er (der Sohn, H.P.) muß merken, daß bis zu seinem 18. Lebensjahr die Eltern das Sagen haben über sein Tun“, meint Familie A. aus Rostock. Also schlicht Erziehung zum Gehorsam. Damit kommen wir zum Kern der Sache. Bei den mehr oder weniger extremen Befürwortern von Lohn und Strafe gilt generell, daß sie das im Erziehungsprozeß wesentliche Grundverhältnis Eltern – Kind vom aktuellen Kindesverhalten abhängig machen. Je nachdem, wie das Kind sich verhält („spurt“), bekommt es „Streicheleinheiten“ oder wird mit Liebesentzug bestraft, werden seine Rechte und Pflichten willkürlich verändert. Lohnen und Strafen werden so zur normalen Umgangsform in der Fa­milie, Lohn und Strafe zum Geld, zur Währung, die in der Familie gilt. Kinder, die diesem Erzie­hungsstil ausgesetzt sind, stehen in einem einseitigen Leistungs- ­und Gehorsamsverhältnis zu ihren Eltern. Für Wohlverhalten in der Schule oder in der Familie gibt es Geld, Freizeit und Anerkennung. Ein Interesse des Kindes an dem, was gefordert ist, wird nicht vorausgesetzt oder interessiert nur als Zeichen kindlicher Leistungs­bereitschaft, -fähigkeit und Folgsamkeit.

Das kann auch kaum anders sein, wenn von früher Kindheit an die Entwicklung von Eltern und Kindern räumlich wie zeitlich weitge­hend voneinander getrennt ver­läuft. Wie sollen gemeinsame In­teressen, gemeinsames Tun ent­stehen, wenn man kaum beieinan­der ist? .“

Lohn und Strafe als Ausdruck gemeinsamer Betroffenheit

Viele Eltern halten es für sehr wichtig, den Kindern die eigenen Freuden und Enttäuschungen mitzuteilen. Sie wissen um die „Macht der Gefühle“. Auf welchem Verhältnis beruht diese Einstellung? Diese Eltern haben ein positives Grundverhältnis zu ihren Kindern, das unabhängig von aktuellen, einzelnen Verhaltensweisen ihrer Kinder besteht. In diesem Falle bestraft sich das Fehlverhalten der Kinder selbst, da alle Mitglieder der Familie davon betroffen sind. Ähnlich belohnt sich erfolgreiches Verhalten selbst.

Es versteht sich, daß dies die interessierte Teilnahme des einzelnen am Alltag der anderen voraussetzt. Gemeinsame Interessen aber erfordern gemeinsames Tun, erfordern Zeit füreinander. Verantwortung für die eigenen Kinder zu tragen, heißt also zuallererst, sich Zeit zu nehmen.

Doch: Wieviel Zeit kann sich der einzelne heute nehmen? Zum einen ist das ein Problem der verantwortlichen eigenen Entscheidung. Wir haben uns weitgehend an die Tatsache gewöhnt, daß es zum Zwecke der Arbeit oder der Übernahme gesellschaftlicher Funktionen erforderlich ist, diese Verantwortung für die eigenen Kinder zu delegieren: an die Krippe, den Kindergarten, Schule und Hort, nicht zuletzt an die Kinder selbst, die damit völlig überfordert sind. Aber letzten Endes ist die Menge an Zeit, an freier Zeit füreinander, Ausdruck der Produktivität der Gesellschaft. Und was heute so schmerzlich vermisst wird, ist der Druck der Bevölkerung auf die Wirtschaft und den Staat aus dieser Sorge um die Kinder heraus.

Vergessen wir nicht: Nicht nur Eltern strafen und lohnen ihre Kinder, auch diese reagieren mit solchen Mitteln gegenüber uns Eltern. Nur verstehen sie das Geschäft nicht so gut aus ihrer schwachen Position heraus. Aggressivität, Verweigerung und Abwehr, Ängste sind neben emotionaler Verarmung und unterentwickelten Fähigkeiten zur Kommunikation und Kooperation die Folgen. Die hohen Zahlen verhaltensauffälliger oder verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher sprechen da eine deutliche Sprache. Und wenn es auch viele Eltern gibt, die das hier beschriebene, positive, persönliche, auf Liebe basierende Verhältnis zu ihren Kindern haben, so sind auch sie das soziale Grundproblem nicht los. „Strafe“ wird zwar nicht mehr als Bedrohung, als Liebesentzug angstvoll erlebt, „Lohn“ nicht als die erwirtschaftete Gegenleistung der Elternpartei. Aber beides erscheint den Kindern unter dem Eindruck der in ihrer weiteren Umwelt herrschenden Prinzipien noch lange nicht als bloßer Ausdruck einer gemeinsamen familiären Betroffenheit von einer positiven oder negativen Verhaltensweise. Weiterhin werden die Kinder die Reaktionen der Eltern als Belohnung oder Bestrafung erleben. Ich will ein Beispiel aus der eigenen Familie anführen: Als meine Tochter (zweite Klasse) sich in letzter Zeit einer stabilen 3 in Betragen näherte, beschlossen wir, die Belastung durch außerschulische Aktivitäten (sie besucht die Musikschule, einen Tanzzirkel und das Schwimmtraining) zu reduzieren. Trotz aller Erklärungen und Gespräche schloß sie sich zuerst der Haltung ihrer Hortnerin an, die uns ausrichten ließ, wir sollten die Tochter doch lieber mit Fernsehverbot bestrafen. Auch die anderen Kinder „fanden das gemein“, daß die Freundin nicht mehr zum Tanzen „durfte“.  Immerhin war die Fähigkeit, das eigene Maß der Belastbarkeit zu erahnen, bei unserer Tochter so weit ausgeprägt, daß sie diese Entscheidung heute mitträgt.

Abschließend will ich feststellen, daß die Möglichkeit, im Verhältnis zu unseren Kindern Formen der gegenseitigen Abhängigkeit zu leben, die nicht auf Macht und Gewalt basieren, zu einem guten Teil von uns selbst geschaffen werden muß: schon jetzt, in der eigenen Familie, letzten Endes aber durch die Entwicklung einer Gesellschaft, die Freizeit schafft füreinander und keine Disneyländer für Einsame und Gelangweilte.

 


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