Von den Tücken einseitigen Hörens

(Veröffentlicht in: Elternhaus und Schule 12/90, S. 8)

 

Wie Mißverständnisse entstehen

Im Heft 11/90 haben wir uns dar­über unterhalten, wie nützlich es ist, daß wir über vier Ohren verfü­gen. Um die Nachrichten zu verste­hen, die uns im Alltag erreichen, brauchen wir ein Sachohr (für den Sachinhalt), ein Beziehungsohr (um mitzukriegen, wie der Absen­der zu uns steht), ein Selbstdarstel­lungsohr (mit dem wir verstehen, was der Absender von sich preis­gibt) und ein Appellohr (für den Aufforderungscharakter einer Nachricht ).

Haben Sie die einzelnen Ohren in dem kleinen Ratespiel erkannt? Zur Kontrolle schauen Sie bitte in das Kästchen mit den Auflösungen. Ich habe Ihnen zu zeigen versucht, daß wir in der Regel mit allen vier Ohren gleichzeitig hören. Aber:

Mitunter ist es zweckmäßig, mit dem einen oder anderen Ohr genau hinzuhören. Weil in dem, was der oder die andere zu uns sagt (also in der Nachricht), einer der genann­ten vier Aspekte besonders wichtig ist. Dabei ist noch gar nicht gesagt, ob dieser oder jener Aspekt für den Gesprächspartner oder nur für mich wichtig ist. Für mich kann es wichtig sein zu erfahren, was je­mand von mir will (Appell) oder von mir hält (Beziehung). Für den Ge­sprächspartner mag es nur um die Sache gehen (Sachaspekt). Oder es drängt ihn, mir mitzuteilen, daß ihn etwas belastet (Selbstoffenba­rung).

Das Hören mit diesem oder jenem Ohr gelingt uns allen unterschied­lich gut oder schlecht. Manch ei­ne(r) ist auf mehr als einem Ohr taub. Das ist für die Freunde, die Kollegen oder die Familie meist ein Ärgernis. Nicht deswegen, weil wir uns in einem Gespräch unverstan­den fühlen. Nein, wir fühlen uns zu­meist mißverstanden! Das heißt nicht nur, unser Gegenüber kann zu unserem Leidwesen dieses oder jenes Ohr nicht gebrauchen. Er hört zu allem Überfluß auf einem (falschen) Ohr besonders gut! Ich will solche einseitigen Hörgewohn­heiten kurz verdeutlichen.

Auflösung Heft 11/90, S. 13

Erste Frage:

  1. Sachohr
  2. Beziehungsohr
  3. Appellohr
  4. Selbstoffenbarungsohr

   Zweite Frage:

  1. Appellohr
  2. Selbstoffenbarungsohr
  3. Sachohr
  4. Beziehungsohr

Dritte Frage:

  1. Selbstoffenbarungsohr
  2. Beziehungsohr
  3. Appellohr
  4. Sachohr

Gerade der männer- und leistungs­geprägte Berufsalltag fördert das Hören mit dem Sachohr. Das ist be­sonders unangenehm, wenn der Sachaspekt nicht der wichtigste Teil einer Nachricht ist. “Hast du schon Mittag gegessen?”‘ fragt mich ein Kollege. “Ja”‘, antworte ich wahrheitsgemäß. Dann merke ich an seiner Reaktion, daß er mit mir in der Pause über etwas ihm Wichtiges reden wollte.

Das “Beziehungs-Ohr”

“Du nimmst immer alles so persön­lich”‘, sage ich zu meinem Nach­barn. Und in der Tat, egal, worüber man mit ihm spricht, immer fühlt er sich angegriffen oder beleidigt, ver­sucht, sich zu rechtfertigen oder zu verteidigen.

Das “Selbstoffenbarungs-Ohr” Gut, wenn mir einer zuhört, der verstehen kann, wie ich mich fühle, wenn ich über etwas mit ihm rede. Irgendwie rede ich ja doch immer auch über mich, selbst beim sach­lichsten Thema. Schlimm, wenn je­mand ständig Fehldiagnosen über mich anstellt, einen sachlichen Vor­schlag kontert: “Das sagst duja nur, um dich wichtig zu machen!”‘

Das “Appell-Ohr”

Manche Menschen neigen dazu, in jeder Äußerung eine versteckte Aufforderung zu vermuten. Sie meinen, die anderen erwarten im­mer etwas von ihnen, versuchen rasch, die Signale zu deuten, um korrekt reagieren zu können. Si­cher haben Sie auch solche Be­kannte, die immer “das Gras wach­sen hören”‘.

Was kann man nun tun, um gute Ohren zu bekommen? Ein bißchen Aufmerksamkeit auf unsere Hör­gewohnheiten im Alltag, ein wenig Übung können nicht schaden. Darum heute wieder einige Bei­spiele für Sie, an denen Sie sich er­proben können. Die Lösung der Rätsel steht auf Seite 31.

1. Die Schüler beim Beginn einer Biologie-Stunde: “Schon wieder Blutkreislauf!”‘ Reaktion des Leh­rers: ,,Ihr glaubt wohl, ich richte meinen Unterricht nach euren Wünschen!”‘

2. Der Lehrer beginnt den Unter­richt mit einem leicht gequälten:

“Na, dann woll’n wir mal wieder.”‘ Aus der Klasse die Antwort: “Lan­ger Abend gestern, was?”‘

3. Tochter: “Oh Gott, was soll ich bloß anziehen?”‘

Mutter: “Du hast erst letzte Woche ein schickes Kleid bekommen!”‘

4. Vater: ,,Ich habe gehört, es gab nachmittags Streit mit deinen Freunden?”‘

Sohn: “Das war schon vormittags.”‘

Auflösung:

  1. Der Lehrer hört mit dem Beziehungsohr, glaubt seine Autorität angegriffen.
  2. Die Klasse hört korrekt mit dem Selbstoffenbarungsohr, daß der Lehrer  keine große Lust auf den Unterricht hat.
  3. Die Mutter hört mit dem Appellohr den Ruf nach neuen Käufen für Tochters Kleiderschrank.
  4. Der Sohn hört mit dem Sachohr.

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