ERINNERUNGSRÄUME

(Veröffentlicht in: Elternhaus und Schule 4/91, S. 6 – 7)

 

Ist es nicht unbegreiflich? Alle Wissenschaft hat uns nicht dazu bringen können, ein angemessenes Bild davon zu bekommen, wie es in unseren Köpfen aussieht. Wo stecken die Gedanken, die Erinnerungen? Das simple Bild von einer vollen Kammer, dem Neben-, Über- und Untereinander des Erfahrenen – es drängt sich immer wieder auf.

Bei vielen Menschen zählen Reiseerinnerungen zu den frühesten Erinnerungen überhaupt. Und das nicht erst seit der Zeit der Reisebüros. Meine früheste Erinne­rung reicht bis dahin zurück, wo ich wenige Monate über vier Jahre alt war, als wir in die Nähe von Abergele in das Seebad fuhren; ich erinnere mich einiger Ereignisse und Örtlichkeiten von dort  mit einer gewissen Deutlichkeit (CharIes Darwin).

Reisen scheint bis heute ein ele­mentares Bedürfnis des Menschen zu sein. Eine Art höchstes Gut oder Menschenrecht. Darüber dis­kutiert man nicht. Schließlich ist Strafe auch immer mit Einschrän­kung der Bewegungsfreiheit ver­knüpft gewesen. Verbannen an ei­nen Ort. Festhalten an einem Ort. Gefängnis, Fesseln. Haltet ihn und sperrt ihn ein. Davon, daß jemand zur Strafe auf eine Weltreise ge­schickt worden sei, weiß man nichts. Und wenn, dann als eine Art Verbannung von einem Ort weg. Ausbürgerung. Abschiebung. Versetzung.

Reisen von Ort zu Ort ist ein Be­dürfnis ersten Ranges. Auch dies: Reisen als innere Bewegung, als Akt der Phantasie ist uns wohl wichtig. Und nicht erst seit ge­stern. Anteilnahme an den Erleb­nissen der Gereisten war immer das Privileg der Mehrheiten. Ho­mer, MarcoPolo, Kolumbus, Jules Verne, Karl May und Michael Ende. Wo bin ich nicht schon überall gewesen als Kind! Unter der Bettdecke mit der Taschen­lampe.

Unsere Welt ist räumlich, wir selbst sind es mit unseren Kör­pern, und unsere Weltbilder sind es auch. Nicht nur voller Land­schaften, Wege und Orte. Gerade auch unsere soziale, die wirtschaftliche und politische Welt wird doch von uns ganz stark in räumlichen Kategorien gedacht: Nach oben kommen will man, fort­kommen im Leben. Bloß nicht ganz unten sein. Und Vorsicht: Wer hoch steigt, der wird tief fal­len. Orte stehen für soziale Ränge: Eine Villa im Tessin, Monaco, Wandlitz, Kreuzberg. Die auf dem Balkan. Ab nach Sibirien. Zurück in die Pampa. Man ist politisch rechts oder links oder in der Mitte. Ganz vorn sitzen in der Klasse. Hintenan stehen. Mitläufer. Am Rande der Gesellschaft.

“In” oder “out” – das ist doch die Frage. Oder etwa nicht? Und dazu das Herz am rechten Fleck. All das und dann immer wieder die Fragen: Wo ist mein Platz? Wie komme ich weiter? Wo finde ich Ruhe? Wo ist was los? Das Unterwegs-Sein hat sein Ge­genstück: den Ort. Herkunft ha­ben, ankommen, bleiben können. Heimat.

Kindheit und Jugend wurden seit langem immer wieder in der Meta­pher der Reise gedacht. Betrach­ten wir nur einmal die Anpas­sungsprozesse, die jedes Kind in seiner jeweiligen Umwelt voll­zieht. Es fällt auf, daß die Gesell­schaft sehr perfekt eine Reise für die Kinder inszeniert. Eine Reise, die durch stets altersgerechte, kindgemäße Umwelten führt. Kin­derzimmer, Krippe, Kindergarten oder Kita, Schule, Spielplatz. Hat das Kind ein Entwicklungsstadium hinter sich gebracht, beherrscht es die vorgeschriebenen Verhaltens­räume, deren Regeln, dann fordert es eine neue Umwelt. Das war von uns Erwachsenen genau so gedacht und geplant. Dem kom­men wir gerne nach. So durchläuft jede Generation eine Reihe von eigens geschaffenen Welten inner­halb unserer Erwachsenenwelt. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson formuliert es als Aufgabe, die “Umwelt” des Menschen als ein unaufhörliches Bestreben der älte­ren, erwachsenen “Iche” zu begrei­fen, in gemeinsamer Organisa­tionsbemühung eine integrierte Folge von erwartbaren mittleren Umwelten für die jungen Iche zu schaffen.

Neben dem Leben an ihren Orten bewegen sich unsere Kinder auch in unseren Räumen, leben in unse­rer Welt. Und wir nehmen sie mit auf unsere Reisen. So wie Vater Darwin den jungen Charles. Dar­über hinaus lassen wir sie Anteil nehmen an dem von uns Erfahre­nen. Und mit der Zeit bildet sich ein Modus des mehrfachen Um­welt – Erfahrens heraus. Neben der aus direkter, eigener Anschauung gebildeten Ansicht steht die aus Berichten anderer gewonnene. Neben dem, was ich mit anderen gemeinsam erlebte, steht, was ich allein erfuhr. Zu den Eindrücken aus der Kindheit kommen spätere, neue hinzu. Da bin ich schon selbst ein anderer geworden. Aber die Erinnerungen sind geblieben, wie sie waren. So schichtet und lagert es sich in unseren Köpfen. Es scheint mir, daß es nötig ist, daß es nützlich sein könnte, wenn man versucht, die Schichten, die Ablagerungen, die die Ereignisse in uns allen hinterlassen haben, wieder in Bewegung zu bringen. (Christa Wolf)

Ich will an einem Beispiel darauf eingehen. Wir haben in wissenschaftlichen Untersuchungen ganz nebenbei etwas für uns Erstaunliches festge­stellt. Viele der von uns inter­viewten ostdeutschen Jugendli­chen berichteten davon, daß ih­nen Großeltern von ihrer Heimat in den ehemaligen deutschen Ost­gebieten erzählt haben. Das lag schon Jahre zurück, in dieser ganz typischen Kinderzeit, in der Groß­eltern gern erzählen, was ihnen wichtig ist. Ohne Erwartung eines ernsten Gesprächs.

Unterdessen war eine Zeit vergan­gen, in der die Jugendlichen in der Schule einiges über die Staaten ge­lernt hatten, zu denen die großel­terlichen Heimaten nun gehörten. In dieser Kinderzeit fanden die er­sten Reisen Richtung Osten mit den Eltern statt. Etwas später folgten die ersten eigenen Reisen, in Gruppen oder allein, in diese (DDR-typische) Richtung. Neben­her sah man TV und Kino, las und hörte. Bestimmt auch etwas zu diesem Thema.

Aber: Gerade wenn verschiedene Formen, etwas über einen Teil unserer Welt erfahren, zeitlich aus­einanderfallen oder in sehr unter­schiedlichen sozialen Bezugsgrup­pen stattfinden, dann bleiben die einzelnen Erinnerungsbilder häu­fig in ihrer Eigenart bestehen. Großmutters Erzählung vermischt sich nicht mit der Passage aus dem Geschichtslehrbuch oder dem Ein­druck von der letzten Reise. Ich erinnere mich noch deutlich an eine Szene mit meiner Großmut­ter. Wie sie mit ihrem Krückstock auf dem halb zugewachsenen Friedhof im polnischen Land nach Vertrautem stocherte. Mit wem haben wir je darüber geredet? Auch die von uns befragten Jugendlichen wußten nicht, daß sie eine gemeinsame Erfahrung aus verschiedenen Erzählungen über Osteuropa haben. Man kann auf sehr unterschiedliche Weise sol­che Orte im Gespräch berühren, Schichten in Bewegung bringen. Ein beunruhigendes Beispiel war im Heft 1/91 dieser Zeitschrift zu lesen. Im Familienporträt der jun­gen Republikaner.

Viele Menschen in Deutschland suchen heute wieder einen Ort, der ihnen Heimat sein kann. Geo­graphisch, politisch, wirtschaftlich, menschlich. Unsere Kinder su­chen einen solchen Ort erstmals. Auch sie sind auf dieser Reise – viel mehr innerlich als äußer­lich -, auf der Suche nach ihrer Identität. Ohne Erinnerung findet man sich nicht durch. Wer auf die­ser Reise wichtige Orte, Stationen seines bisherigen Lebens ausläßt, den kürzesten Weg sucht, wird nie ankommen. Auch nicht in den Au­gen seiner Kinder und Enkel.


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