Ursachen von Gewalt und Angst – ein Gespräch mit dem Politischen Psychologen H. Pätzolt
(Veröffentlicht in: Wochenpost Nr. 51, 10. 12.1992
WOCHENPOST: Die Hemmschwelle für Gewalt sinkt in Deutschland. Und Menschen, denen wir das nicht zugetraut hätten, spenden Gewalttätern Beifall oder bleiben zumindest passiv. Was beunruhigt Sie in dieser Situation am meisten?
PÄTZOLT: Neben dem Mitleid mit den Opfern, der Wut und der Angst stelle ich bei mir eine schwer zu beschreibende Beunruhigung fest: daß unter denjenigen, die bei den Gewaltexzessen die Kulisse abgeben, Menschen aus meiner Familie sein könnten, aus meinem engeren Kollegen- und Bekanntenkreis, Leute, mit denen ich in einem Haus wohne. Die sogenannten normalen, durchschnittlichen Bürgerinnen und Bürger. Es stellt sich die Frage: Wie weit können wir uns selbst trauen, ob wir menschlich, vernünftig, politisch sinnvoll reagieren?
WOCHENPOST: Sie haben als Politischer Psychologe die Identitätskrise der Ostdeutschen untersucht. Was haben Sie herausgefunden?
PÄTZOLT: Der erste Befund:
Das soziale Nahfeld – Freunde, Nachbarn, Verwandte, Kollegen – ist das Feld, in dem Ängste kaum vorkommen. Es ist sozusagen unsere soziale Haut. Andere Ängste sind viel stärker ausgeprägt: Angst vor Katastrophen etwa, vor dem möglichen Unfall in einem Atomkraftwerk, vor Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg, Krankheit, auch vor dem Umzug in eine andere Stadt. Gerade weil wir nach unserem Leben in einer relativ statischen und geschlossenen Gesellschaft auf die Gefährdung unserer sozialen Beziehungen kaum vorbereitet sind, rufen die jetzigen Verunsicherungen natürlich heftige Reaktionen hervor.
Und der zweite Befund: Das soziale Nahfeld ist auch der Ort, für den wir im Alltag festlegen, wer oder was uns fremd ist. Fremde, die vermeintlich und tatsächlich eindringen in das Beziehungsgeflecht, das uns hält und sichert, lösen oft ganz ähnliche Reaktionen aus wie Verluste sozialer Unterstützung, wie das eigene Fremdwerden im vertrauten Umfeld. Die von uns Befragten betonten immer wieder, daß sie Fremde zwar im eigenen Land dulden. auch im Heimatort, aber nicht in der Familie, nicht als Nachbarn, nicht im engsten Kollegenkreis. Dieser Bereich soll geschützt bleiben, damit er uns weiterhin Geborgenheit gibt. Wir definieren, was uns fremd ist, was uns stört und bedroht, und richten unsere Aggressionen dagegen.
WOCHENPOST: Gewalt, die sich vor Asylbewerberheimen und anderswo entlädt, ließe sich also, auch bei jungen Leuten, auf Beziehungsängste zurückführen?
PÄTZOLT: Die Aggressionen haben ihre Ursache in krisenhaften Entwicklungen in unserem sozialen Nahfeld. Wenn sie sich gegenüber Fremden entladen, speziell gegen Ausländer. sind Beziehungsängste im Spiel: die Angst vor Schutzlosigkeit, vor Verlassenheit. Natürlich führt nicht einfach eine Ursache notwendig zu Gewalt. Aber Betroffene brachten immer wieder zur Sprache: Wenn ich früh aus der Tür gehe, treten mir Leute entgegen, die ich da nicht sehen will, Andersfarbige, Anderssprachige. Sie kommen an mich heran, wollen etwas von mir, betteln. Gerade die Klage über das Betteln hat damit zu tun, daß die soziale Distanz für diejenigen, die sich so äußern, in einem Maße durchbrochen wird, das sie nicht akzeptieren wollen. Hier, meinen sie, ist ihr Schutzraum in Gefahr.
WOCHENPOST: Was wäre angesichts einer solchen Diagnose zu tun?
PÄTZOLT: Die generelle Antwort wäre natürlich: Wir müssen eine persönliche, politische und soziale Kultur des Umgangs miteinander entwickeln, eine Kultur des Redens, Aufeinanderzugehens, Miteinanderhandelns. Wir haben nun aber herausgefunden, daß es nicht nur kulturelle Defizite im Umgang mit Ausländern und Fremden gibt, sondern daß unsere politische Kultur generell von dem Defizit geprägt ist, daß sie ihre Existenz durch Ausgrenzung Andersdenkender zu sichern versucht. Wir haben im Ostberliner Bezirk Köpenick alle Achtzehn- bis Zwanzigjährigen befragt, zu welcher Gruppe die jungen Leute sich zugehörig fühlen und welche sie am meisten ablehnen. Das scheinbar erfreuliche Ergebnis: Die mit weitem Abstand am häufigsten abgelehnte Gruppe war die der Radikalen und Extremisten …
WOCHENPOST: … wieso ein nur scheinbar erfreuliches Ergebnis?
PÄTZOLT: Wir fragten auch danach, was das für Leute sein mögen, die von den Jugendlichen als Radikale abgelehnt werden. Und wir fragten, ob die Ablehnung eher politischer, sozialer oder persönlicher Art ist. Das Ergebnis ist erstaunlich: Die Äußerungen über die Abgelehnten enthielten deutliche Signale, daß man sich selbst zuerst persönlich, dann sozial überlegen fühlte. Die anderen wurden als dumm, brutal, ahnungslos, leichtgläubig und ähnliches geschildert, als Proletarier, als Ungebildete, als Arbeitslose. Aber politische Argumente wurden in die Ablehnung so gut wie gar nicht einbezogen.
WOCHENPOST: Das heißt, von politischer Distanz läßt sich hier nicht sprechen und also auch nicht von der Bereitschaft zu politischer Auseinandersetzung?
PÄTZOLT: Meine Skepsis in Bezug auf die Defizite der politischen Kultur in diesem Land gründet sich genau darauf. Wenn ich diejenigen diskriminiere, die ich persönlich und sozial ablehne, wie kann ich dann mit ihnen eine politische Auseinandersetzung führen? Eine ganze Gruppe aus der Gesellschaft auszugrenzen, bedeutet auch, sie zu Fremden zu machen, die fremd bleiben sollen. Und dies gilt auf unterschiedliche Weise für alle, die von der Norm abweichen: durch ihre Hautfarbe. Nationalität, Rasse, politische Auffassung, Sexualität oder was auch immer sonst als fremd festgelegt wird.
Das Gespräch führte Erika Berthold
Dr. Harald Pätzolt
Er arbeitet als Politischer Psychologe am Institut für Politikwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität.
Er leitet die Untersuchungen zu den Studien »Krise der nationalen Identität der Ostdeutschen« und »Erstwähler 1994«. Die Erstwähler-Studie befaßt sich mit der Frage, wie sich im Zusammenhang der sozialen und politischen Veränderungsprozesse in Ostberliner Bezirken die politische Handlungsfähigkeit im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter entwickelt.
Liebe deinen Nächsten
»Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen weiß, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigungen rechnen darf.«
Aus Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur