(veröffentlicht in: BERLINER LINKE 35/1993, S. 3)
Jugendliche seien heute wesentlich weiter und reifer als ihre Vorgängergenerationen. Nicht wenige Sozialwissenschaftler plädieren daher für eine Absenkung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre. Politiker von Bündnis 90/Grüne und der PDS teile diese Einschätzung; die PDS/Linke Liste hat Mitte Juni bereits einen entsprechenden Gesetzesantrag im Bundestag eingebracht. Einer der entschiedenen Befürworter von P 16 ist Harald Pätzolt (37), promovierter Philosoph, an der Humboldt-Universität auf dem Gebiet der Politischen Psychologie tätig. BERLINER LINKE sprach mit ihm.
Haben Sie Kinder?
Ja, zwei. Neun und elf Jahre alt.
Aha, also noch keine potentiellen Wähler für 1994.
Nein. Aber selbst wenn sie älter wären, dürfte es im nächsten Jahr für sie noch nicht reichen. Die Diskussion über dieses Thema und entsprechende Gesetzesänderungen werden geraume Zeit in Anspruch nehmen. Ich erinnere nur im die langwierige Debatte in der BRD, als 1969/70 das aktive Wahlrecht von 21 auf 18 und das passive Wahlrecht von 25 auf 21 per Grundgesetzänderung gesenkt worden waren. Schon in der Weimarer Republik hatten bereits 20jährige wählen dürfen, den Vätern den Grundgesetzes schien dies offenkundig noch zu früh.
Ich merkte schon: Sie wollen auf den Nachweis hinaus, daß in der deutschen Geschichte beständig das Wahlalter diskutiert und anschließend gesenkt wurde.
So ist es. 1848 hieß es, jeder unbescholtene Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat, ist wahlberechtigt und wählbar. Diese Regelung blieb bis 1918 in Kraft. Für die Wahl der Nationalversammlung von Weimar besaßen erstmals auch 20jährige das aktive und passive Wahlrecht, womit einer alten Forderung der Sozialdemokratie entsprochen wurde. In der DDR lag das aktive und passive Wahlrecht zuletzt bei 18 Jahren (damit will ich nichts über die Qualität der Wahlen gesagt haben).
So, und nun möchten Sie und andere auch diese Hürde überwinden und Teenager an die Urne bringen. Warum? Aus dem Umstand, daß 14jährige bereits Autos knacken und steuern können, leitet doch auch niemand die Forderung ab, ihnen den Führerschein zuzubilligen? Wo endet der Dumme-Jungen-Streich, wo beginnt der Ernst des Lebens?
Für mich ist die Frage, wann das Jugendalter enden und das Erwachsenenalter beginnen sollte, eigentlich sekundär. Dazu gehören verschiedene Momente. Primär lautet für mich die Frage: Ist es politisch, sinnvoll, das Wahlalter zu senken? Ich meine ja. Wir beklagen wachsende Politikverdrossenheit und -abstinenz, die Zahl der Austritte mehrt sich – in allen Parteien, Jugendliche organisieren sich erst gar nicht. Folglich muß darüber nachgedacht werden, wie die Bürgerinnen und Bürger wieder in die politische Kultur eingebunden werden können. Vor allem aber geht es um die Gewinnung einer besonders kritischen Gruppe: und das sind die Jugendlichen.
Aber müßte man nicht besser die Politik ändern, als Jugendliche in diese “einzubinden”? Statt an Symptomen herumzudoktern, sollten wir die Krankheit bekämpfen.
Das hat alles zwei Seiten. Natürlich würden diese Jugendlichen zur Zielgruppe von Politikern werden, wenn es eine solche Wahlrechtsänderung gäbe. Sie würden, wie üblich, an diese herantreten, an ihrer Politik aber würde sich nichts Grundsätzliches ändern. Das ist ein unvermeidliches Negativum. Dennoch überwiegt das Positive: Der jugendliche Rigorismus, die Innovationskraft dieser Generation könnten nicht gänzlich von den etablierten Parteien aufgesaugt und stillgestellt werden – es bliebe immer noch genügend Kraft zur Veränderung. Jugendliche haben spezielle Vorstellungen von Politik, sie verbinden damit hohe Erwartungen, haben eigene politische Interessen, denken anders. Dem müßten die Parteien und ihre Institutionen dann auch entsprechen. Ich meine, sie würden sich langsam verändern. insofern wäre das schon eine langfristige Therapie für die Politik.
Nun wissen wir inzwischen, wie vergleichsweise folgenlos Wahlen sind. Politik- und Parteienverdrossenheit speisen sich auch aus einem Gefühl der Ohnmacht: Es ist wurscht, ob und wen man wählt – es ändert sich doch nichts. Ob man nun zwei Jahre früher oder später dieses Gefühl erfährt, bleibt letztlich gleich.
Enttäuschte Hoffnungen der Wählerinnen und Wähler gehören neben gebrochenen Wahlversprechen wohl zu den Wahlen wie die Urne selbst. Aber wo Hoffnung in Politik gesetzt wird, da lebt noch etwas von der Tugend des Bürgers, ist man bereit, sich zu engagieren. Ohne politische Hoffnung und Beteiligung aber ist die Demokratie verloren. Deshalb darf man die Institution der Wahl nicht so herabwürdigen, wie es vielfach geschieht. Das entspricht auch nicht der Einstellung von Jugendlichen zu Wahlen und Wahlrecht. Unsere Untersuchungen mit Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in Köpenick bestätigen den hohen Stellenwert, den das Wahlrecht für den einzelnen hat. Von 16/17 jährigen Jugendlichen wird es beispielsweise als deutliche Zäsur beim Übergang zum Erwachsenenalter gesehen, es ist ein Akt der Emanzipation. Das erste Mal ist unerhört wichtig, zum ersten Mal in seinem Leben übernimmt ein junger Mensch Verantwortung in einem politischen System. Das passiert selbst, wenn sie oder er nicht zur Wahl geht.
Wieso aber kommen Sie auf 16 Jahre? In der Nacht vorm 16. Geburtstag werden diese Jugendlichen eben so wenig reifer, wie sie es in der Nacht auf den 18. Geburtstag werden?
Das trifft zu. P 18 ist eine gesellschaftliche Übereinkunft gewesen und wurde ebenso willkürlich getroffen wie P 16, man braucht schließlich einen Stichtag. Bei der Diskussion 1969/70 zur Senkung des Wahlalters wurde die Entscheidung für P 18 an zwei Punkten festgemacht: 1. Gibt es ein Junktim zwischen Volljährigkeit und Wahlalter, Strafmündigkeit und Ehemündigkeit etc.? Die lagen in der Tat auseinander, Religionsmündigkeit etwa liegt bei 14 Jahren, die sexuelle Entscheidungsfreiheit inzwischen bei 16. Dieses Junktim, das zeigte die Diskussion damals, besteht nicht, es gibt keine Verklammerung der verschiedenen Mündigkeiten. Folglich konnte man sich beim Wahlrecht nicht auf dieses beziehen – es mußte eine politische Entscheidung getroffen werden.
Die zweite – von den Sozialwissenschaftlern aufgebrachte – Frage lautete: ist die politische Kompetenz bei den 18- bis 20jährigen geringer als bei den 21- bis 25jährigen? Auch diese Frage mußte verneint werden. Der politische. Informationsstand, die politische Aktivität, politische Interessen und politische Meinungsbildung – die entscheidenden vier Kriterien – waren in diesen beiden Gruppen ähnlich, die Zäsur lag nicht bei 21, sondern bei 18 Jahren.
Nach heutigen Untersuchungen scheint auch diese nicht mehr zu gelten. In der letzten Shell-Studie findet sich bei den 15- bis 17jährigen der auffälligste Anstieg der Politisierungskurve. Das ist eine qualitative Veränderung. Die Zäsur bei der politischen Entwicklung liegt also nicht mehr um die 18, sondern erheblich früher.
Wieso nun P 16 und nicht gleich P 15?
Darüber läßt sich in der Tat streiten, das ist offen. Mir geht es vor allem darum, diese P 18 -Schallmauer zu durchbrechen und in eine Diskussion einzutreten, wie man den Veränderungen innerhalb der Jugend politisch entsprechen kann. Darüber müssen sich die politischen Entscheidungsträger verständigen. Das setzt allerdings öffentliches Interesse an diesem Thema und seine öffentliche Erörterung voraus, die findet aber noch nicht statt. Folglich müssen Wissenschaftler das Problem sichtbar machen.
Die Jugendorganisation von Bündnis 90/Grüne haben das Thema bereits aufgegriffen und in ihr Programm aufgenommen. Mitte Juni hat die PDS/Linke Liste einen entsprechenden Antrag im Bundestag eingebracht, und soviel ich weiß, haben in dieser Angelegenheit Lothar Bisky und Gregor Gysi an die Schülervertretungen in allen Bundesländern und an die Spitzen der Jugendorganisationen geschrieben. Und die anderen Parteien?
Ich denke, alle haben die gleichen Nachwuchssorgen und das gleiche Interesse an diesem Thema. Es ist zugleich parteiübergreifend und parteiunabhängig. Die Ablehnung, sofern sie sichtbar wird, wurzelt weniger in politischen Erwägungen, sondern mehr in einer diffusen Furcht und Unsicherheit von Erwachsenen, die um ihren Status bangen. Sie sehen einen Verdrängungswettbewerb, in dem sie unterliegen könnten, weil nicht mehr sie allein die Spielregeln diktieren.
Ohne Lobby läuft aber nichts?
Leider. Eine Lobby unter Sozialwissenschaftlern und Jugendforschern, Soziologen, Psychologen ist für eine Initiative P 16 aber mühelos herzustellen, wenn sich auch politische Kräfte dafür stark machten. Deren Aufgabe ist es, langfristig die politische Kultur in diesem Lande zu sichern – eben durch die Gewinnung der Jugendlichen. Deshalb verstehe ich diese Debatte auch nicht als Initiative FÜR die Jugend, sondern als eine zur Stabilisierung des demokratischen Grundes, auf dem die Gesellschaft steht. Die Diskussion wird allerdings im Sande verlaufen, wenn sie nicht von denen, die es betrifft – die Jugendlichen nämlich -, aufgegriffen und getragen wird.
Gespräch: Frank Schumann