(veröffentlicht in: Pressedienst Nr. 50/94, S. 2)
Kein Hungerstreik ist wie der andere. Hungerstreiks sind, abhängig von Ort, Zeitpunkt und teilnehmenden Personen wie vom Gegenstand des Streiks, Unikate. Insofern hat die FAZ unrecht, wenn sie im Hungerstreik eine der “Posen der demokratischen Öffentlichkeit” sieht oder den Hungerstreik als “klassischen Bestandteil der politischen Ikonographie des Westens” bezeichnet. Dies wäre nur in Fällen gerechtfertigt, in denen Hungerstreiks imitiert, mit dem Mittel gespielt wird. Solcherart Hungerstreiks gab es natürlich auch. Womit wir es also zu tun haben bei einem Hungerstreik, muß jeweils geprüft werden.
Es gibt in der Tat keine gültigen Kriterien, wann und wo wer zu welchem Zweck in den Hungerstreik treten darf. Rechtfertigt erst die gewaltsame Unterdrückung eines Volkes, die Sorge um den Weltfrieden oder um die Natur einen Hungerstreik? Oder verstehen wir Erich Mühsams Hungerstreik während seiner Festungshaft gleichfalls als gerechtfertigt?
Der Hungerstreik ist zuallererst ein ganz individueller Akt. Er kann nicht von irgendwelchen Instanzen beschlossen werden. Darum ist es eigentlich auch nicht so wichtig, wie viele sich an einem Hungerstreik beteiligen. Den Hungerstreik als Mittel der politischen Auseinandersetzung ernst nehmen heißt, zu unterstellen, daß die Hungerstreikenden nicht anders konnten. Sie hatten keine Wahl. Showmaster haben immer die Wahl, auch Populisten, Demagogen und sonstige Rollenspieler. Den Hungerstreik ernst zu nehmen heißt, zu unterstellen, die Hungerstreikenden sind sich des moralischen Ernstes ihres Tuns bewußt, der Folgen dieses Streiks für sich selbst, für ihre Angehörigen und Freunde.
Wirkliche Hungerstreiks enthalten immer mindestens drei Elemente. Erstens sehen sich die Hungerstreikenden in einer ausweglosen Situation. Nicht als Privatpersonen, aber als Persönlichkeiten, Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob die Situation wirklich so ausweglos ist, wie sie scheint, oder ob sie nur als ausweglos wahrgenommen wird. Für die Beteiligten existiert dieser Unterschied nicht. Zweitens nehmen die Beteiligten die Situation als persönlich bedrohlich wahr. Sie erleben sich selbst, ihre Persönlichkeit, ihre Integrität, ihren Ruf, ihre Selbstachtung und Handlungsfähigkeit als akut gefährdet. Sie erleben die Situation als existentiell bedrohlich. Wiederum ist es zunächst ganz gleichgültig, ob dies eine Fehlwahrnehmung der Hungerstreikenden ist oder nicht. Das wird sich, auch für die Beteiligten, relativ rasch herausstellen. Wäre dem so, kommt ein Hungerstreik rasch zum Ende und dies in der Regel ohne Gesichtsverlust für die Beteiligten. Drittens enthält ein Hungerstreik einen Anteil an Trauer. Es ist der erfahrene Verlust an Gewißheit und Vertrauen, z.B. in Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, den man nicht so einfach hinnehmen will und kann. Der Hungerstreik ist der Versuch, den ursprünglichen Zustand des Zutrauens, der Gewißheit der Geltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, der Macht der Öffentlichkeit, letztendlich der Gerechtigkeit in diesem Land, zu erzwingen.
Wer wie viele Medien den Sinn für den tiefen Ernst der symbolischen Seite unseres Lebens, auch des politischen, verloren hat, und also auch im Hungerstreik nur noch das mediale Verwirrspiel anomischer Menschen zu sehen vermag, dem ist nicht zu helfen. Ich nehme erst einmal jeden, auch jeden Hungerstreikenden, als Individuum ernst, bevor ich ein Urteil über die Angemessenheit oder Vermessenheit eines Hungerstreiks fälle. Weniger sollte man nicht tun.