(Veröffentlicht in: Neues Deutschland, 30. November/1. Dezember 1996, S. 10)
Rezension
Jürgen Kuczynski: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1996.
Er gehört zu meinem Leben wie das Sandmännchen.
Er war in der DDR ein Star und ist es für viele geblieben. Keine Frage also, daß man ein neues Buch von J.K. kauft. Wie früher auch. Wenn man es bekam. Und wenn es nicht gerade zehn Bände waren…
Drei Dinge scheinen mir an dem neuen J.K. bemerkenswert. Erstens sind die Fragen eigentlich gar keine Fragen im Wortsinne, sondern mit einem Fragezeichen versehene Deutungsmuster der 1989/90 zu Ende gegangenen historischen Epoche (DDR Sozialismus, Kapitalismus, Oktoberrevolution usw.). J. K. befaßt sich noch einmal mit der naiven Weltsicht, die er mitgestaltet hat, und entlarvt sie leichthändig als eine solche. Man kann auch sagen, J.K. begegnet sich in seinem Produkt und kritisiert sich in ihm. Zweitens offenbart J.K. in diesem Buch ein eigenartiges, starr an Erlebnisse und Situationen gebundenes, Urteilsvermögen. Was er auch für persönliche Begegnungen schildert – die Betreffenden sind immer prächtige, wunderbare, zumindest interessante und liebenswerte Menschen gewesen. Manès Sperber hat einmal gesagt: Erlebnisse hat man, Erfahrungen macht man. Mir schien es schon immer so, als läge die Faszination der Persönlichkeit J.K.’s in der ungeheuren Menge von Erlebnissen, außergewöhnlichen Begegnungen mit außergewöhnlichen Leuten begründet. Aber es scheint ebenso, als wäre J.K. an Erfahrungen sehr viel ärmer als an Erlebnissen. Als prägte und präge dies auch seine politischen und historischen Urteile. Kann so etwas sein? Es kann. J.K. hat eine ganz eigene, elementare, Art, die Geschichte und ihre Akteure zu erfahren, entwickelt. Das ist der dritte Punkt. J.K. reflektiert, in diesem Buch nicht erstmalig, aber sehr klar, ein Grundthema seines Lebens: Geist und Macht. Immer wieder schwärmt J.K. von Lenin, und Perikles als den größten Staatsmännern der Geschichte. Warum? Weil sie ein einzigartiges Verhältnis zu Intellektuellen hatten: Freundschaft. Das ist J.K.’s Wunsch. So zu leben mit der Macht. Ihm ist das nicht gelungen. Er war, in seinen eigenen Worten, was die wenigen bedeutenden Intellektuellen immer nur werden durften: ein Günstling. Ein Günstling der Macht. Statt Freundschaft gab’s nur Gnade oder Ungnade. Und nun wird klar: Angesichts der unerreichbaren Freundschaft fiel die Wahl zwischen Gnade und Ungnade nicht gerade leicht; war aber doch überschaubar einfach. Nebenbei läßt J.K. keinen Zweifel daran, daß die Masse der Intellektuellen nicht einmal diese Wahl hatte. J.K. war und ist eben ein Star.