Überlegungen nach Münster
(Veröffentlicht in: Disput, Mai 2000)
Wer die Entwicklung der PDS über die Jahre beobachtet hat, dem wird die Krise nicht unerwartet gekommen sein. Es sind natürlich aktuelle Anlässe und Fehler, aber dass diese möglich waren, hat eben auch seine Gründe und die liegen in Versäumnissen der letzten Jahre. Kurioserweise wird ja in den Ursachenforschungen einerseits zum Urschleim der PDS-Gründung zurückgegangen, andererseits im Tagesaktuellen, dem Verlaufsgeschehen vor, in und nach Münster, gegraben.
Wie die Wahrheit, so liegt auch der Mist meist mittig. Vielleicht liegt die Wahrheit aber auch außerhalb – im kulturellen Wandel der Gesellschaft. Die Gesellschaft, eben weil sie schon in uns ist, während wir noch glauben, in ihr ankommen zu müssen, macht, dass wir als unsere exklusiven Probleme verkennen, was nur Konsequenzen umfassenderer Umbruchsprozesse sind. Daher die Paradoxa:
- Wer über Jahre immer darüber räsoniert, dass man Personalentwicklung machen müsse, Nachwuchs fördern usw. und es währenddessen allerdings schlicht unterlässt, der muss sich nicht wundern, dass die politischen wie auch die charakterlichen Eigenarten des vorhandenen Personals situativ eine beachtliche Bedeutung bekommen.
- Wer über alle Jahre der Existenz der PDS über den Westaufbau als eine faktische Unmöglichkeit orakelt und sich auf Jahrzehnte dafür einrichtet, der muss sich nicht wundern, wenn die Partei eine solche kulturelle West – Ost – Asymmetrie aufweist.
- Wer sein Rostocker Manifest als einen etwas wunderlichen Text beiseite legt, dem fällt dann als Partei wenig mehr als bloße klientelistische Interessenpolitik für den Osten ein, die uns jederzeit durch Engagement anderer Parteien neutralisiert werden kann.
- Wer geradezu schicksalsergeben den biologisch bedingten Mitgliederschwund hinnimmt und die elementarsten Formen der Mitgliederbetreuung wie jede ernsthafte Anstrengung zur Mitgliederrekrutierung unterlässt, der hat dann eben die Mitgliederstruktur von heute und wenig Aussicht auf eine Wende.
- Und wenn die Partei nicht in der Lage ist, die verschiedenen Optionen für die weitere Entwicklung überhaupt wahrzunehmen und einen politischen Willen zu entwickeln und sich zu entscheiden, dann bleiben eben die Öffentlichkeitsarbeit, die Programmarbeit, die Strategiearbeit, die Organisationsarbeit im Indifferenten.
Über all diese Dinge ist immer wieder in der Parteiführung mal gesprochen worden. Aber sie waren irgendwie immer auch tabu. Diese Tabus gilt es zu brechen.
Wer seit zehn Jahren die PDS reformieren will, der ist heute ein Konservativer. Der Verweis auf den gegangenen Weg, die Richtung, sagt nichts darüber, wofür die Spitzenfunktionäre heute stehen. Wer auch immer die PDS führen will, muss für den angestrebten Fall des Erfolgs der Partei mindestens drei Fragen beantworten, die bislang tabu waren:
- Wie will die PDS den Osten behaupten?
- Wie will die PDS den Westen gewinnen?
- Was ist für die PDS Erfolg?
Die ersten beiden Fragen können nur beantwortet werden mit Blick sowohl auf die derzeitige Mitgliedschaft als auch auf die potentiellen Wähler der PDS. Fragen wie diese unterstellen natürlich die Absicht, bundesweit Volkspartei (vielleicht richtiger: Massenpartei?) zu werden. Für den Westen heißt dies anzuerkennen, dass das Problem nicht die Fremdheit der PDS für die Wessis, sondern die Fremdheit der übergroßen Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung für die PDS ist. Das wäre eine strategische wie mentale kopernikanische Wende. Im Osten wäre nach der Gefahr der Entfremdung der Bundespartei von den Bürgern zu fragen.
Beide Fragen können, bei aller differenzierten Sicht auf die zwei Teilgesellschaften, nur dann wirklich als beantwortet gelten, wenn die Antworten in Ost und West gleichermaßen akzeptabel daherkommen. M. E. muss eine Idee für Deutschland her, ein Gedanke, der die künftige Rolle der Nation, des Volkes, der Bevölkerung, einfängt und der mit den Wünschen der Masse der Menschen wenigstens konvergiert. Vielleicht darf man kurz und provokativ einmal von einem Sozialismus in den Farben Deutschlands sprechen. Der bisherige Sozialismus der PDS kannte entweder keine Heimat oder war so penetrant ostelbisch, wie die DDR es war.
Die PDS ist eine Partei im Hier und Jetzt. Insofern kann sie gar nicht anderswo sein. Im Westen etwa. Jedenfalls nicht so, wie sie ist. Deswegen hat sie nur das Personal, das sie hat und kann kein neues bekommen. Mitglieder dito. Als Partei des Hier und Jetzt hat sie kein Verhältnis zur Vergangenheit und keines zur Zukunft. Sobald die Partei zu reflektieren beginnt und sich vom Hier und Jetzt entfernt, landet sie entweder im Vorgestern oder im Übermorgen. Also im Reich der Mythen und der Utopien. Keine der kleinen und großen Parteien in Deutschland hat heute eine Idee, ein Ziel. Wie wollen wir Deutschland in 10 Jahren sehen? Diejenige Partei, die hier rechtzeitig ein Ziel formuliert, kann gewinnen. Das geht nur, wenn der kulturelle Wandel, der Generationen mit neuen kollektiven Zielvorstellungen hervorbringt, verstanden wird.
Also mal den Blick weggewandt vom Parteikaninchen: Was ist los mit den Deutschen? Es ist doch toll, dass dieses Volk sich einen neuen Weg sucht. Wer über Zlatkomania klagt oder über Oli P., der vergisst, dass die Deutschen lange gebraucht haben, bis sie ihre Fähigkeit, selbst Helden zu machen, die keinem schaden, die sie kontrollieren, entdeckt hatten. Endlich ist Deutschland weg vom Kaiser und vom Führer, von Adenauer und Ulbricht, von Beckenbauer und Becker, Mercedes und Deutscher Bank. Wir müssen nicht mehr Weltmeister sein in irgendetwas. Wir wollen nicht mehr außergewöhnlich und auserwählt sein. Wir brauchen/müssen es auch nicht mehr sein. Insofern haben all diejenigen recht, die Gildo Horn und Verona Feldbusch als Symptome und Ikonen eines neuen Deutschland ansehen. Eines Volkes, das endlich normal geworden ist. Die verspätete Nation ist angekommen in der Gegenwart.
Das Interessante ist, dass eben nicht nur eine gute PR und die Medienmultis diese Helden machen und von daher die neue Freiheit und Selbstbestimmtheit der Deutschen bloße Fiktion wäre. Per TED oder Wahlurne oder Einschaltquote brechen die Deutschen endlich jedes Diktat. Demokratie ist heute, sagt P. Sloterdijk, dass wir keine Unterschiede mehr finden, sondern dass wir welche machen. Wir sind das Volk. Über uns ist nichts und keiner. Politiker, die das Volk zwar als Wahlvolk brauchen, dann aber sich dem Willen desselben entziehen (ob real oder in der Vermutung der Leute), haben keine Chance mehr. Kohl, Lafontaine, Gysi treten ab. Sie sind nicht vom Schlage Harald Schmidts oder Guido Westerwelles und Gerhard Schröders.
Wir müssen nicht mehr Fußballweltmeister werden. Schneller schwimmen als sonst wer. Nicht mehr die Ersten im All sein oder in der Formel 1. Keine historische Mission mehr erfüllen, nie mehr tapferer sein, Musterschüler des Sozialismus oder der Freien Marktwirtschaft. Schluss mit der Stimme des Blutes, dem Dichten und Denken für Europa und die übrige Welt. Wir haben nichts mehr von damals in Ordnung zu bringen und nirgendwohin voranzugehen. Deutschland ist im Jahr 2000 in der Gegenwart Westeuropas angekommen. Wir nutzen den Tag. Auch die Genossen? Im Leben ja, in der Politik nein.
Die PDS als die verspätete Partei. Sie wollte die DDR und kann darum mit der Bundesrepublik Deutschland nicht gut leben. Sie hat bislang noch keine Idee für dieses Land als ihres, außer der der Emanzipation der Ostdeutschen. Sie lebt noch nicht wirklich in der Gegenwart. Eher im Augenblick. Das hält sie nur auf den unteren Ebenen aus. In den Ländern, den Kommunen. Da nämlich ist sie gegenwärtig. Die Menschen im Osten kennen den Zwiespalt. Da gibt“s keine Fremdheit. Fremd sind den Menschen, ob PDS – Mitglieder oder nicht, heute die da oben, die in Berlin und auch die in Hamburg: Was ist denn da los?
Wer auch immer PDS-Vorsitzende/r werden will: Er oder sie wird so sein wie Zladko und Verona und nichts mehr haben von Helmut und Gregor oder Oskar. Professionell ja, die Eigenlogik des politischen Systems Partei/Parlament/Staat beherrschend. Aber nicht darüber hinaus eigensinnig und eigenwillig. Kein Stück weg vom (Partei-)Volk, den Massen. Wer nur den Hauch eines Verdachts erregt, es gäbe noch andere Motive, Parteichef zu werden als die üblichen Vorteile des Jobs wahrzunehmen und die Absicht, dem Willen der Parteibasis zu entsprechen, wer dieser Basis etwas zumuten will, etwas von ihr erwartet usw., ist chancenlos. Sie oder er werden nicht mehr (vor-) gefunden, sondern gemacht. Von daher die Rede von Findungsprozeduren ein Hinweis auf die alte Zeit, aufs programmiertes Scheitern derselben. Im Übrigen lacht die Parteimasse längst auch jeden Vordenker aus. Niemand ist heute mehr weise. Das politische Publikum draußen, der Spiegel-Leser, hat die Figur des Vordenkers nur noch erinnert – als antiquiertes Pendant zu einer antiquierten Menge, die man wiederum nur von Demonstrations- und Versammlungsbildern her kannte.
Was ist der Wille der Basis? Einer Basis, wie sie erst noch in den nächsten 10 Jahren entstehen wird? Was wollen die Menschen in Deutschland? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Arbeit, Gesundheit, Liebe, Freundschaft, Frieden. Sicherheit. Eigentum.
Was will die PDS? Sie will das alles für alle. Insofern ist sie zunächst traditionell sozialdemokratisch: universelle Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Gegenüber der modernen Sozialdemokratie, die dem „ein Bisschen davon“ das „für sehr Viele“ angefügt hat, unterscheidet sich die PDS. Sie will es radikaler: Wo einer das nicht hat, da hat es keiner wirklich. Die Freiheit des Einzelnen als Bedingung der Freiheit aller. Was man nicht ganz hat, das hat man gar nicht. Nicht nur das. Intellektuell und kulturell nimmt sie das Unbehagen an einer postmodernen Lebensweise auf, die dem einzelnen nicht mehr als die Aussicht lässt, gelegentlich in irgendwelche Top ten zu gelangen. Oder dabei zuzuschauen. Ranking anstatt stairway to heaven. Wo eine Gesellschaft es schafft, Dürer, Hitler und Zlatko mit Noten zwischen 1 und 7 zu belegen, ist für die Zukunft einiges offen. Man kann dieses Unbehagen zu fassen suchen in Begriffen wie Transzendenz und Jenseits, höchstes Gut oder in Utopien, über Wahrheit und Ziele, Selektionskriterien gesellschaftlicher Entwicklung und sonst noch Einiges reden – was zählt und politisch aufgenommen gehört, ist der sehr gewisse Rest Misstrauen der Menschen gegenüber der heute kulturell sanktionierten Selbstbeschränktheit des eigenen Lebensvollzugs: Lebe dein Leben blablabla…, bleib in Bewegung, gehe keine Bindung ein, bring keine Opfer (R. Sennett).
Nein, nein, es hat diese Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft ihren Grund in dieser Gesellschaft, in der wir leben und es ist diesem Drang politisch Stimme und Geltung zu verschaffen. Immer noch.
Was heißt denn das für die „Idee für Deutschland“, den „Sozialismus in den Farben Deutschlands“? Wenn Deutschland heute langsam normal wird, dann muss es der deutsche Sozialismus auch werden. Dann muss er ganz tief unten, bei den Menschen, so wie sie sind, ansetzen. Hier ist der Punkt, wo zu springen ist. Erst dann müssen wir sagen, wie wir uns die Wege, die zu gehen wir vorschlagen, denken. Unsere Politik beginnt nicht mit einem großen Reformprojekt, sondern damit, dass wir die Ansichten und Vorstellungen vom Leben der Menschen hier weitgehend teilen und erklärtermaßen all jene versammeln, die sie radikal vertreten wollen.
+++
Natürlich kann das alles auch Unsinn sein, weil die Menschen doch weitgehend ideologisch denken, wegen des Kapitals und der Medienmogule. Und diese Überlegungen sind dann ein schönes Beispiel dafür. Natürlich haben die Banken es so gedreht, dass ich mir ein T-Shirt mit Zladko überstreife und denke, das wäre ich, der das tut. Dann sollten wir uns noch einmal zum Kapital – Seminar, Wertform und Warenfetisch treffen und die Sache gerade rücken.