(Veröffentlicht in: Disput, Dezember 2001)
Nein, zur Entschuldigung dafür, dass der Parteivorstand sich nicht mindestens ein Jahr für die Arbeit am Wahlprogramm der PDS zu den Bundestagswahlen 2002 genommen hat, kann ich nichts beitragen. Das will ich gar nicht erst versuchen. Denn Zeit – nein, Zeit hatte dieser Vorstand ganz gewiss nicht. So ein Generationswechsel bringt Reibungen mit sich. Und eine gleichermaßen spannende wie selbstquälerische Debatte ums neue Parteiprogramm will erst einmal bestanden sein. Zu verstehen, was in diesem Land ein Regierungswechsel nach 16 Jahren Kohl praktisch bedeutete, zumal wenn die Wechsel in der Regierung, man denke an den Abgang von Lafontaine, noch hinzukamen, war nicht leicht. Die Folgen der Globalisierung, die EU-Osterweiterung, der 11. September, zuvor der Balkankonflikt, der zum Krieg wurde, waren ebenso politisch zu verarbeiten wie die Verschiebungen im Parteienspektrum in den ostdeutschen Ländern und Gemeinden. Schließlich ist die PDS nicht durch höhere Gewalt zu Einfluss und Macht im Norden, in Mitteldeutschland und Berlin gekommen. Und dass sich führende Genossinnen und Genossen zu Jahrestagen der Auseinandersetzung mit der Geschichte gestellt haben, muss auch erinnert werden.
Ich meine: Die Erfolge der Partei im vergangenen Jahr forderten, soweit die Genossinnen und Genossen im Karl-Liebknecht-Haus daran Anteil hatten, ihren Tribut in Form von verlorener Zeit für Arbeit am Wahlprogramm wie an manch anderen Dingen, die dringlich wären: politische Bildung, Nachwuchsarbeit, theoretische Arbeit usw.
Nun sind also, seit Anfang Dezember, Bausteine zu einem Wahlprogramm vorgelegt, ist knapp Zeit zur Diskussion, und es hilft alles nichts: Diese Zeit muss reichen. Sie sollte uns reichen.
Ich will versuchen, in einem ersten Teil die Brücke zum Wahlprogramm von 1998 zu schlagen, um dann in einem zweiten Teil auf die meines Erachtens gravierendsten Veränderungen, die ein Wahlprogramm reflektieren sollte, einzugehen. Endlich will ich einen Ausblick auf das Endprodukt, so, wie es mir lieb wäre, wagen.
1998 – Die PDS hatte ein modernes, ein sozialistisches Wahlprogramm
Manch eine/r von uns erinnert sich mit mir der grandiosen Rede, mit der André Brie auf dem damaligen Wahlparteitag in Rostock das Wahlprogramm der PDS begründete. Ich will die Kernsätze hier zitieren. Jeden davon könnte ich heute unterschreiben – und doch wird unser neues Wahlprogramm anders aussehen müssen.
»…ein Wahlprogramm ist kein Parteiprogramm. Es soll möglichst vielen Menschen außerhalb der Partei in möglichst verständlicher Form sagen, mit welchen politischen Zielen die PDS in die Wahlen geht und um Zustimmung wirbt. Erfüllt es diesen Zweck nicht, erfüllt es überhaupt keinen Zweck.«
»… wir sollten auch und gerade bei der Arbeit am Wahlprogramm die Komplexität sozialistischer Programmatik nicht aus dem Auge verlieren. Jede und jeder von uns ist nicht in erster Linie Ökologe oder Medienpolitiker oder Kulturpolitiker, sondern wir alle sind in erster Linie Sozialistinnen und Sozialisten.«
»Ich spreche zum Wahlprogramm der Partei des Demokratischen Sozialismus. Das heißt erstens zum Programm einer Partei, die nicht aufhören kann und nicht aufhören darf, sich zu öffnen. … Auch wenn unsere Kritik an SPD und Grünen zu Recht hart ausfallen wird, da sie vor dem neoliberalen und machtpolitisch orientierten Mainstream zurückweichen, sollte die PDS die einzige Partei sein, die in ihrem Wahlprogramm … auch eigene Nachdenklichkeit, Dialogbereitschaft und Achtung anderen politischen Kräften gegenüber ebenso ausdrückt wie die Differenzen. … Rund zwei Jahrzehnte war die politische Kultur in der Bundesrepublik von der gesellschaftlichen Blockade durch den Neoliberalismus gekennzeichnet. Konservative und marktliberale politisch-geistige Hegemonie lag wie Mehltau auf dem intellektuellen politischen Leben. … Meiner Meinung nach hat aber endlich ein Prozess zur Überwindung dieser Lähmung und der konservativen geistigen Vorherrschaft begonnen. … In diese reale gesellschaftliche Diskussion und nicht in die Sterilität eines linken Elfenbeinturms muss sich unser Wahlprogramm einordnen. Auch wir sind Suchende und haben keine Patentrezepte.«
»Ich spreche zweitens zu einem Wahlprogramm einer Partei, die allen schwierigen Realismus und erforderlichen Pragmatismus aufbringen wird, aber nicht zuletzt dieses Realismus wegen keinen Grund sieht, Gesellschaftskritik zurückzunehmen und gesellschaftliche Alternativen in das Archiv der Philosophiegeschichte zu verbannen. Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte. Der Gedanke, er sei es, ist das Ende des politischen Denkens. … Die Politik in diesem Land ist durch nichts mehr gekennzeichnet als durch ein empörendes Ausmaß sozialer Ungerechtigkeit. Am Ende dieses Jahrhunderts muss es nun endlich gelingen, die Auseinandersetzung um eine gerechte Republik zu eröffnen und zu führen.«
»Ich spreche drittens zu einem Wahlprogramm, das als einziges in Deutschland von gesellschaftlicher Zuversicht gekennzeichnet ist, obwohl es die Dramatik der Krisen klar benennt. … Sozialistische Politik und differenzierte antikapitalistische Positionen, die beispielsweise Unternehmerisches und Markt nicht mit Kapitalismus gleichsetzen, sind hochaktuell. … Wir haben in der Überarbeitung des Programmentwurfs den sozialistischen Charakter der PDS noch einmal ausdrücklich formuliert.«
Welche Themen hielt Brie für hervorhebenswert:
- Öffentliche Kontrolle von Großbanken
- Konkrete Alternativen gegen die weitere Vermarktung von Wohnen, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Kultur und Information
- Dritter Wirtschaftssektor
- Zukunftschancen junger Menschen
- Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, ökologischer Umbau ohne soziale Gleichgültigkeit, Demokratisierung der Demokratie, Kultur
- Widerstand gegen Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierungen aller Art, Rassismus und Rechtsextremismus
- Ostdeutschland
»Anders als in den vergangenen Jahren haben wir uns bemüht, ein Programm zu formulieren, das von den Zusammenhängen zwischen den einzelnen Politikbereichen gekennzeichnet ist.«
Brie fasste zusammen:
- »Die PDS hat das modernste Konzept für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, weil sie aktive und ökologisch orientierte Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik mit realistischen und weitreichenden Vorstellungen zur gerechten Verteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit und zur Schaffung eines neuen … dritten Wirtschaftssektors verbindet.«
- »Die PDS ist die einzige Partei, die die Frage nach einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums konsequent stellt.«
- »Die PDS ist eine Partei, die sich entschieden für die Erweiterung der Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger einsetzt.«
- »Die PDS ist die einzige Partei, die konsequent, und auch die einzige Partei, die umfassend ostdeutsche Interessen und ostdeutsches Selbstbewusstsein artikuliert.«
- »Die PDS ist die einzige Partei, die in ihrem Wahlprogramm konkrete Alternativen zur Zerstörung der Gesellschaft durch den Neoliberalismus vorgelegt hat.«
- »Die Bundesregierung gibt vor, es gebe keine Alternative zur fortgesetzten Deregulierung der Wirtschaft, zur Privatisierung und Kommerzialisierung immer weiterer Bereiche der Gesellschaft. SPD und Grüne verkünden, sie seien die Alternative. Und ich verkenne nicht die Unterschiede zur Regierungspolitik, aber es sind in weiten Teilen Alternativen innerhalb des Neoliberalismus und nicht zu ihm, sozial abgefederter oder ökologisch orientierter Neoliberalismus.«
»Statt die Politikfähigkeit des demokratischen Systems und der Gesellschaft zurückgewinnen zu wollen, wird von SPD und Grünen eine Regierungsfähigkeit angestrebt, die sich daran misst, widerstandslos die Konsequenzen sogenannter Sachzwänge zu exekutieren. … Politik galt einmal als die Gestaltung von Gesellschaft. Heute ist sie zur Verwaltung verkommen. … Wir haben im Wahlprogramm in umfassender Weise und als roten Faden durch alle Abschnitte Vorstellungen entwickelt, wie die gesellschaftliche und demokratische Handlungsfähigkeit schnell zurückgewonnen werden kann. Die PDS ist sensibler und unvergleichlich konsequenter als SPD und Grüne dabei, die Gesellschaft gegen den Marktradikalismus zu verteidigen.«
2002 – Die PDS steht vor neuen Herausforderungen
1. Veränderungen auf den drei Imagefeldern der PDS
Die anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben sich — entgegen der gesamten bundesdeutschen Tradition und Geschichte – dafür entschieden, das Militärische zum selbstverständlichen, nahe liegenden Mittel der Bearbeitung politischer und sonstiger Konflikte zu machen. Militäreinsätze, Militärpräsenz sind im Denken und Handeln der Herrschenden nicht Ultima Ratio, sondern auf Dauer zum ständig benutzten Mittel von Regierungshandeln geworden. Die Ausnahme ist heute und für Jahre die Regel.
Die PDS hat eine andere Prämisse: Unsere Politik leitet sich von dem Anspruch ab, das Militärische nicht theoretisch, sondern politisch-praktisch von der Bearbeitung politischer und anderer Probleme auszuschließen.
Schröder hat 1998 versprochen, den Osten zur »Chefsache« und zugleich nicht alles anders, aber vieles besser zu machen als sein Amtsvorgänger. Beides hat Ostdeutschland nicht wirklich geholfen; die sozialen und ökonomischen Indikatoren verschlechtern sich seit 1998, und die Ost-West-Differenz nimmt zu. Unterdessen sehen sich die Menschen in den neuen Bundesbürgern nicht nur um die ehemals vorhandenen Chancen gebracht. Sie stehen dadurch, dass mit der EU- Osterweiterung der Osten von Deutschlands Rand in Europas Mitte rückt, vor der einmaligen Aufgabe und Chance, diese neue Rolle selbst zu gestalten und davon als Erste zu profitieren. Die Regierung, die geistig noch in Bonn sitzt, ist dabei, neue und alte Bürger Ostdeutschlands um diese einmalige und für Jahrzehnte letzte Chance des Aufschwungs zu bringen. Die PDS kämpft für ein Band der ostdeutschen Länder mit der Hauptstadt und Metropole Berlin, stark genug, jede Bundesregierung zu einer neuen Ostpolitik zu zwingen.
Am 11. September hielt die Welt den Atem an. Wir haben es seitdem sowohl mit einer neuen Bedrohung durch die neue Art von Terrorismus als auch mit einer neuen Dimension bekannter Bedrohungen zu tun, die in den kapitalistisch bestimmten Weltzuständen wurzeln. Und zugleich ist die Kombination beider Dimensionen zu beachten. Die Weltlage ist seit dem 11. September nicht mehr nur im Süden, bei »den anderen«, und nicht mehr nur potenziell explosiv – sondern überall. Global.
Die Gefahren sind globalisiert. Es gibt auf absehbare Zeit keine Möglichkeit mehr, sich ihnen mit letzter Sicherheit zu entziehen. Leib und Leben, Hab und Gut der Menschen im Norden sind bedroht – die Staaten im Norden in einer ihrer Kernaufgaben gefordert. Doch: Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu gewinnen, der Krieg gegen ihn nicht. In einer Welt auch globalisierter Gefahren wirken die alten Mittel zur Sicherung von Leib und Leben, Hab und Gut – Justiz, Polizei und Militär – nicht mehr in alter Weise. Nicht eine vermeintliche »innere Sicherheit« ist zu globalisieren, sondern eine sozial gerechte Weltgesellschaft zu errichten.
Im Erleben der Menschen wie in der Öffentlichkeit verkoppelt sich dies mit den zahlreichen »Entsicherungen« der globalisierten, flexibilisierten Gesellschaft im Beruflichen wie im Privaten: Ausbildung und Job, soziale Bindungen, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind prekär wie seit Generationen nicht mehr erlebt. Sicherheit ist nach dem 11. September in diesem mehrfachen Sinne ein Mega-Thema geworden.
Die PDS führt zum ersten Mal einen Bundestagswahlkampf unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung.
Sie muss diesen Wahlkampf führen mit Blick auf die Länder, in denen sie mit der SPD regiert oder eine SPD-Regierung toleriert. Es darf keinen Wahlkampf geben, der zwischen PDS-Politik in diesen Ländern und PDS-Politik im Bund Gräben aufreißt. Soviel ist sicher. Dazu bedarf es einer sehr differenzierten Einschätzung dessen, was Rot-Grün politisch bewegt oder eben nicht bewegt hat.
Die PDS führt diesen Wahlkampf aus einer gestärkten Position heraus; selbstbewusst schließen wir eine Teilnahme an einer Bundesregierung, die außenpolitisch der NEW-NATO-Doktrin und bedingungslos den USA folgen, aus.
2. Die Krise des Neoliberalismus
Noch einmal sei auf die Rede von A. Brie zurückgekommen. »Was ist Neoliberalismus?«, fragte der große französische Intellektuelle Pierre Bordieu unlängst. Und er antwortete: »Ein Programm zur Zerstörung kollektiver Strukturen, die noch in der Lage sind, der Logik des reinen Marktes zu widerstehen.«
Wir haben uns in der PDS in den vergangenen Jahren nicht besonders ausführlich mit der Zukunft des Staates beschäftigt. Natürlich, viele Genossinnen und Genossen aus der Bürgerrechtsbewegung, der Gewerkschaftspolitik, Innen- und Rechtspolitiker, Verfassungsrechtler und Europapolitiker haben das getan. Im Ganzen aber war eher der Staat DDR als der Staat BRD Gegenstand politischen Nachdenkens. Paradox, dass, wo der Nationalstaat in Europa an sein Ende kommt, Europa einer Verfassung bedarf, die Krise des Neoliberalismus die Rufe nach dem Staat wieder lauter werden lässt. Die Staatsidee reüssiert. Die PDS muss dies zur Kenntnis nehmen. Und sie muss, das ist die Auseinandersetzung darum, was nach der Hegemonie neoliberalen Denkens folgt, in ihrem Interesse, im Interesse ihrer Wählerinnen und Wähler, um die Neubestimmung der Staatsaufgaben kämpfen: Genau das ist Gegenstand der einzelnen Bausteine. Nun wird etwas klarer, worin sich in der Form und damit auch in der Sache das neue Wahlprogramm vom alten unterscheiden wird. Wir haben vor, darauf zu bestehen, dass wir alle, die Bürgerinnen und Bürger den Staat bilden für unsere Zwecke. Und dass wir ihn verändern können zu unserem Nutzen. Illusion? Verrücktheit? Ideologische Verblendung? Ich meine: unsere kräftigste Vision!
Das Wahlprogramm wird einer ganz einfachen Frage folgen und sie zu beantworten suchen: Wie wollen wir leben und arbeiten? Wie sichern wir Arbeit, Einkommen, Gesundheit, Bildung und den Erhalt der Umwelt? Wie schaffen wir eine verlässliche Gesellschaft in einer friedlichen Welt? Wie können wir Erreichtes bewahren und Neues gewinnen, für uns, für unsere Kinder, für die Gesellschaft, in der wir leben? Was ist zu tun, damit wir die Welt nachfolgenden Generationen besser hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben? Welche Rolle soll unser Land in der Welt spielen? Wie können wir Einfluss nehmen?
Wir demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten fragen danach, welche gesellschaftlichen Bedingungen und Einrichtungen Menschen hervorbringen müssen, damit ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung für alle verwirklicht werden kann.
Wir haben das jetzt vor, hier und heute, in unserem Land.
3. Die Wähler erobern sich ihre Stimmen zurück
Wir beobachten es seit einigen Jahren: Die großen Parteien haben immer weniger Stammwähler, die Wähler nehmen sich leichter und massenhafter das Recht, anders zu wählen als beim letzten Mal. Und wer erst die CDU, dann die SPD gewählt hat und von beiden enttäuscht ist, sucht nach Alternativen. Das muss nicht die PDS sein. Sie kann es aber werden. Ebenso wie es ihr Bestreben sein muss, Nichtwähler von gestern zu überzeugen. Dem neuen Wählerverhalten sollten wir nicht Tribut, wohl aber Respekt zollen.
Keine Versprechungen machen, sondern Angebote zur Kooperation mit uns. Es lohnt sich!