Die schlechte Nachricht: Die Zeitungen sind vielerorts alle
(Veröffentlicht in: Disput, Juni 2003)
Mitte April fragte André Brie uns: Was haltet ihr davon, wenn die PDS eine richtig peppige Massenzeitung machen würde? Aber rasch müsste es gehen. Und gut müsste das Ding werden.
Wir hielten erst einmal unsere Begeisterung zurück. Ja, schön wäre es schon. So an sich. Wir wussten ja, was er uns da aufbürden wollte. Hatten schließlich an dieser oder jener Wahlkampfzeitung der PDS mitgearbeitet. Schlichen um die Idee wie die Katze um den heißen Brei herum. Notierten, jeder für sich zunächst, was uns für eine solche Zeitung notwendig erschien. Packten das dann auf den Tisch. Wir kamen uns und der Grundidee für ein Massenblatt der PDS in der gegenwärtigen Situation des Landes und – nicht zu vergessen – der PDS selbst rasch näher.
Anlass wäre natürlich die öffentliche Auseinandersetzung um des Kanzlers “Agenda 2010”. Die PDS hatte ja bereits in Grundzügen ihre Antwort auf die sozial unverdaulichen Reformbestrebungen der Bundesregierung in der “Agenda Sozial” formuliert. Allerdings mit mäßiger öffentlicher Wirkung. Da musste nachgelegt werden. Die parteiinternen Auseinandersetzungen in der SPD trieben auf den Sonderparteitag der Kanzlerpartei zu. Und es schien uns wie vielen Genossinnen und Genossen der PDS höchste Zeit, dass sich unsere Partei in der Öffentlichkeit in dieser politischen Auseinandersetzung zurückmeldete.
Aber was für eine Zeitung stellten wir uns vor? Eine Massenzeitung mit Millionenauflage! Vom Format her und im Stil den gängigen Boulevardblätter ähnlich, aber nicht beliebig wie diese. Aufklärerisch und leicht zugleich. Qualität, Information, Unterhaltung sollte sie den Lesern weit über unsere normale Anhängerschaft hinaus bieten. Nicht populistisch, aber populär, nicht kommerziell, aber professionell wollten wir sein. Menschen ansprechen und mit unseren Positionen bekannt machen, die lange nichts mehr von der PDS gehört und gelesen haben. Wir waren soweit. Nun galt es, für unser Baby zu kämpfen.
Das Konzept
Das Konzept der Massenzeitung war rasch umrissen. Wir wollten die soziale Realität im Deutschland des Jahres 2003 kritisch darstellen. Die Agenda 2010, von der alle sprachen, die kaum jemand überschaute, sollte beleuchtet werden. Wohl objektiv, sachlich, aber keineswegs wertfrei. Ihre absehbaren Folgen für die Bürger sollten gleichrangig behandelt werden. Und das quasi in vier Kapiteln: Gesundheit, Rente, Arbeit, der Osten. Klar, dass dabei auch die speziellen Positionen der PDS, ob Ablehnung oder schlauere Lösung, zur Sprache kommen sollten. Und nachdem André Brie auf einem Landesparteitag in Sachsen den Gedanken eines “SozialKonvents” vorgestellt hatte und dieser Gedanke umgehend zu einem Parteitagsbeschluss der sächsischen Genossinnen und Genossen geworden war, sollten führende PDS-Politiker einen bundesweiten entsprechenden Aufruf in der Massenzeitung veröffentlichen. Gewissermaßen als papiernen politischen Fehdehandschuh Schröder vor die Füße.
Fakten wollten wir bringen, Schlaglichter, Sichten und Meinungen, Bilder. Viel PDS sollte drin sein und wenig PDS drauf, aber eben unverkennbar PDS. Letzteres führte zu harscher Kritik. Aber dazu weiter unten.
Natürlich steht und fällt alles in der PDS mit der Akzeptanz in den eigenen Reihen. Was ein Genosse nicht versteht oder nicht mag, das verteilt er auch nur höchst ungern auf der Straße. Das wissen wir, und das wissen auch die Landesgeschäftsführer. Die Nachfrage in den Ländern erbrachte an ersten Reaktionen, was wir von uns selbst aus unseren ersten Begegnungen mit der Idee der Massenzeitung kannten: erst Skepsis, aber zugleich Vertrauen und endlich Entschiedenheit. So muss es sein. Natürlich meldeten die Länder unterschiedlichen Bedarf an. Sachsen 350.000 Zeitungen, Berlin, Sachsen-Anhalt und Brandenburg je 100.000, Thüringen 80.000, NRW 50.000, Niedersachsen 20.000, Hessen 20.000, und der Rest ging in die übrigen Länder. Die Frage der Kofinanzierung wurde solidarisch geregelt.
Das Kind braucht einen Namen
So weit, so gut. Wie sollte die Massenzeitung denn eigentlich heißen? Ein einfacher Gedanke führte zum Namen. Pro und Contra. Der Inhalt der Zeitung war bestimmt vom Abwägen, auch einem Konfrontieren von des Kanzlers und unseren Positionen. In der Sache und im Gestus wollten wir nicht den Protest nach vorn stellen, sondern das Ringen um schlaue Lösungen: Wofür wir als PDS sind, bestimmt, wogegen wir polemisieren, protestieren und kämpfen. Unser Herangehen ist konstruktiv, wir sind positiv in unserer Grundhaltung. Das sollte auf den ersten Blick deutlich werden. Der Titel war gefunden: “Pro”.
Redaktion hört sich gut an. Fest stand nur André Brie als Chefredakteur. Aber es gab Wunschkandidaten für die Mitarbeit, zum Teil erfahrene Journalisten: Kathrin Gerlof, Uwe Sattler, Hanno Harnisch. Sie waren sofort dabei. Als Experte für Sozialpolitik half uns Klaus Dräger. Aus dem Karl-Liebknecht-Haus recherchierten, texteten und redigierten Martin Icke und Harald Pätzolt. Die eigentliche Redaktion aber, diejenige, die alles beieinander hielt und zusammenführte, heißt Tanja Behrend. Dass wir uns auf eine langjährig in Wahlkämpfen bewährte Zusammenarbeit mit der Werbeagentur Trialon verlassen konnten, war wichtig für die Nerven.
Es wird eng
Wenn wir pünktlich zum Sonderparteitag der SPD die druckfrischen Exemplare in der Hand halten wollten, mussten wir am 30. Mai frühmorgens um 6 Uhr andrucken lassen. Es wurde eng. Knapp anderthalb Wochen vom Konzept der Zeitung bis in die Druckerei. Und noch keinen Artikel, kein Foto. Nix. Wir machten uns also an die Arbeit. Bezirzten Prominente, schwärmten aus in den Norden bis an den Kreidefelsen. Sammelten Wörter fürs Kreuzworträtsel, Karikaturisten spitzten die berühmten Federn. Ach, Texter sind wirklich nicht sehr pflegeleicht. Aber wie es so schön heißt: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Alles wird gut, war unser Gruß in jenen Tagen. Wir grüßten uns täglich mehrfach. Als Glücksumstand empfanden wir, eine bekannte Schriftstellerin wie Daniela Dahn gewinnen zu können, für “Pro” einen Text zu verfassen. Renate Holland-Moritz lieferte eine klasse Filmkritik. Ein original Gysi war für uns ein Muss. Der Satiriker Thomas Wieczorek brachte der “Pro” seinen Witz. Gefreut haben wir uns, dass es mit dem Interview mit Horst Schmitthenner, dem IG Metall-Spitzenmann, geklappt hat. Und und und …
Eins kam zum andern. Die anfangs so horrende weißen Seiten begannen sich zu füllen. Die Endabnahme der Seiten erfolgte am 28. Mai vormittags, am Nachmittag ging alles in den Satz. Andruck war, bereits erwähnt, am 30. Mai mit Beginn der Frühschicht.
Raus damit!
Die erste Auslieferung in Berlin erfolgte noch am 30. Mai, die Länder bekamen ihre Exemplare in den ersten Junitagen geliefert. Am Berliner S-Bahnhof Sonnenallee verteilten junge Leute in “socialist”-T-Shirts an die zum Estrel-Hotel – dort fand der SPD-Sonderparteitag statt – hastenden Genossen von der politischen Konkurrenz die “Pro”. Müntefering und Schily mochten nicht Zeitung lesen. Ihr Problem.
Die ersten Reaktionen bekamen wir von Genossen, die es aus politischen wie psychohygienischen Gründen ablehnen, BILD und verwandte Blätter zu lesen. Empörung, Verachtung, Ablehnung. Und wo, bitte schön, ist denn das PDS-Logo?! Dann Stimmen aus den Ländern: Die Zeitung gehe gut weg. Sie seien zufrieden. Die ersten richtigen Kreuzworträtsellösungen trudelten im Karl-Liebknecht-Haus ein. Apropos Rätsel: Ein Genosse aus dem Brandenburgischen rief an: Er verstehe die Welt nicht mehr. Die Omis in seinem Haus, die sonst bei jeder Briefkastenleerung das von ihm beharrlich eingesteckte PDS-Zeug in den Karton für Werbung fallen ließen, fand er auf dem Hof in der Sonne sitzen und – das “Pro”-Kreuzworträtsel lösen!
Bilanz
Zuerst die gute Nachricht an alle Genossinnen und Genossen: Wir haben die “Pro” so gemacht, dass ihre Verteilung noch einige Zeit möglich ist. Die schlechte Nachricht: Die Zeitungen sind vielerorts alle.
Wir meinen: “Pro” ist eine gute Sache, und überlegen, zurückhaltend, bald eine Nr. 2 zu machen. Dann beginnt wieder alles von vorn.