Eine erste Analyse zum Urnengang in Schleswig-Holstein – und ein Blick voraus
(Veröffentlicht in: Disput, März 2005)
Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 20. Februar mit ihrem äußerst knappen Ausgang gibt nicht nur Meinungsforschern und Wahlforschern einige Rätsel auf. Sicher haben diejenigen Recht, die Wert auf die Feststellung legen, dass dies keine Testwahl für die Bundestagswahl 2006 gewesen sei. Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein bietet den Parteien aber eben doch Gelegenheit, über ihre Strategien gründlich nachzudenken und aus dem äußerst ambivalenten Verhalten der Wählerinnen und Wähler und eben auch der Nichtwählerinnen und Nichtwähler für die kommenden Wahlkämpfe zu lernen.
Ich will versuchen, folgende Fragen hypothetisch zu beantworten: Was ist in letzter Minute mit den Wählern geschehen? Warum blieb der Protest aus? Was war mit der PDS? Was bedeutet das Wählerverhalten (nicht das Wahlergebnis!) für die Wahl in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus?
Was ist in letzter Minute mit den Wählern geschehen?
Wer die Reaktionen der Ministerpräsidentin wie des Herausforderers am Wahlabend verfolgt hat, dem wird die beiden gemeinsame Verblüffung über das Ergebnis aufgefallen sein. Die Umfragen, so Heide Simonis, hätten doch bis zuletzt bestätigt, dass die SPD mit den Themen goldrichtig gelegen habe, dass es keine Wechselstimmung gegeben habe und dass Simonis weit vor Carstensen gelegen habe. Stimmt. Was war in den Wahlkabinen geschehen?
Eigentlich hätten die Sozialdemokraten mit den Umfragen vorsichtiger umgehen müssen. Die Grunddaten im Land waren einfach nicht so gut, als dass alles hätte normal verlaufen können: wirtschaftliche Lage, Arbeitslosenzahlen, Finanzen des Staates – alles objektiv wie im Bewusstsein der Mehrheit der Bürger schlecht wie nie. Die Wirtschaftslage beurteilten 57 Prozent der Bürger als schlecht, vor fünf Jahren waren es nur 18 Prozent. (Quelle: ZDF vom 20.2.2005, Analyse der Forschungsgruppe Wahlen)
Zwar hatte die Regierung im Ansehen seit dem bundesweiten Umfragetief der SPD im Herbst letzten Jahres wieder etwas aufgeholt, dennoch blieb das Ansehen der Landesregierung deutlich im negativen Bereich, vor allem auch das des grünen Juniorpartners. Die Regierung erreichte im Februar 2005 bei der Frage nach der Zufriedenheit mit ihrer Arbeit bloß einen Wert von -0,1 (zum Vergleich: Februar 2000: +0,9). (Quelle: ZDF vom 20.2.2005, Analyse der Forschungsgruppe Wahlen)
Auch die Bundesregierung hatte in den letzten Wochen an Zustimmung gewinnen können, und die pessimistischen Einschätzungen der Bevölkerung über die wirtschaftlichen Erwartungen waren zugleich geringer geworden – bis die Arbeitslosenzahlen plötzlich offiziell über der 5-Millionen-Grenze lagen. Vor genau dem Hintergrund einer aktuellen (möglicherweise nur temporären) pessimistischen Grundstimmung fand diese Landtagswahl statt.
Die beiden Lager waren mit zwei deutlich unterscheidbaren politischen Angeboten auf die Wähler zugegangen:
Schwarz-Gelb hatte die Sanierung der Staatsfinanzen nach vorn gestellt, die Entwicklung der Wirtschaft und die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Die Philosophie dieses öffentlichen Angebotes und des darauf sich beziehenden Wirtschaftsdiskurses lautet: erst die Staatsfinanzen sanieren, dann die Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Nur so und erst danach werden wir uns alles andere, auch soziale und kulturelle Dinge, leisten können.
Rot-Grün sprach von allem, von der ganzen modernen Gesellschaft und über das schöne Land und nicht über die offensichtlichen Probleme. Im Kern und im Lichte der Agenda 2010 war der bundespolitische Sozialstaatsdiskurs der SPD über die Reform des Sozialstaates auch in Schleswig-Holstein präsent: Wir machen Politik zur Gestaltung einer Gesellschaft der Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, deren Kern der Sozialstaat ist.
Entsprechend ordneten sich die Wähler, quasi in der Kabine, jeweils zu. Es ist sehr deutlich, wie die CDU-Wähler vor allem Wirtschaft und Arbeitsmarkt als wahlentscheidende Motive nannten (53 bzw. 33 Prozent), während diese Themen (in ihrer Verbindung durch den Wirtschaftsdiskurs!) für die Wähler der SPD sehr viel weniger wichtig waren (28 und 22 Prozent); von den Wählern der Grünen, für die diese Themen marginal waren (16 bzw. 11 Prozent), ganz zu schweigen. Andererseits waren für die Wähler des Regierungslagers Themen wie soziale Gerechtigkeit deutlich wichtiger als für die des bürgerlichen Lagers (SPD: 37 Prozent zu CDU: 12 Prozent); für die grünen Wähler standen mit 60 Prozent an erster Stelle natürlich die Umweltfragen. (Quelle: NDR vom 21.2.2005, Infratest dimap)
Die Entscheidung für das eine oder andere Politikangebot geschah offenbar in letzter Sekunde. Dafür war wohl wichtig, welche Themen zum Wahltag hin massenmedial präsenter waren: Wirtschaftsflaute und Massenarbeitslosigkeit vor den sozialen Themen. Das ist die Regel: Hat jedes Lager seine spezielle Kompetenz, entscheidet die öffentliche Präsenz der entsprechenden Themen.
Es waren besonders Arbeiter und Arbeitslose, die den Weg von der SPD weg (13 bzw. 12 Prozent) und zur CDU hin (11 bzw. 10 Prozent) gefunden haben und dabei speziell noch Bürger mit geringen Bildungsabschlüssen (9 Prozent). (Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, 20.2.2005)
Das Thema Bildung und Schulen war, oberflächlich betrachtet, ein im Wahlkampf ganz nach vorn gestelltes Thema gewesen: Einheitsschule gegen gegliedertes Schulsystem. Aufgeladen wurde meines Erachtens dieses Thema erst durch die Zuspitzung der Auseinandersetzung zum Ende hin. Wer dem Wirtschaftsdiskurs zuneigte, dem erschien das gegliederte Schulmodell des bürgerlichen Lagers als das entsprechende. Wer dem Sozialstaatsdiskurs zuneigte, der war offener für längeres gemeinsames Lernen, für “eine Schule für alle”.
Unter den Wahlforschern ist umstritten, ob es eine solche für die Wählerinnen und Wähler nachvollziehbare Lagerbildung mit klaren wahlprogrammatischen Alternativen gegeben hat oder nicht. Viola Neu, eine äußerst kompetente Wahlforscherin der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, verneint dies: “Für die Wähler war eine klare Lageralternative von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb nicht ersichtlich.” 1 Allerdings bezieht sich Frau Neu auf die im Vorfeld der Wahl gemachten Umfragen. Das Phänomen der Last-Minute-Entscheidung diskutiert sie leider nicht. Ich meine, es hat eine solche Alternative gegeben, und sie hat sich subjektiv erst kurz vor der Wahl aufgebaut.
Vor dem Hintergrund welcher politischen Einstellungen sahen die Bürger “plötzlich” Alternativen, die sie vorher nicht zu erkennen glaubten? Glaubten sie sodann, sich wirklich entscheiden zu können? Es gibt Hinweise darauf, dass Leistungsorientierung und Akzeptanz der Existenz von Eliten bei einer deutlichen Mehrheit der Bürger dafür die Grundlage bilden könnten. Im Thüringen-Monitor 2004, einer großen repräsentativen Untersuchung der politischen Kultur im Freistaat Thüringen, wurde nach Zustimmung zur Frage “Wer sich heute wirklich anstrengt, der kann es auch zu etwas bringen” gefragt. Dem stimmten 75 Prozent der Befragten zu. Der Aussage “Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistung” stimmten 63 Prozent zu. Wer sich anstrengt, kommt voran – man muss ihm nur auch eine Chance geben. Wem traue ich zu, dass er mir diese Chance gibt? Wer hat mir (wie der Masse der Azubis in Schleswig-Holstein) eine Chance gegeben? Fragen und Antworten darauf bestimmen die politische Wahrnehmung und Entscheidung wohl wesentlich mit.
Programmatisch wichtig scheint mir, dass das Landtagswahlprogramm der CDU ganz nach dem Geschmack von Frau Merkel gewesen sein dürfte, vielleicht das erste Mal ein echtes Merkel-Programm. Ich empfehle es darum auch allen Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern zur nachträglichen Lektüre. Wer danach noch meint, es seien doch all diese Programme der neoliberalen Parteien mit einer Soße angerichtet, dem sage ich: Es kommt vielleicht aufs Fleisch darunter an. Den Wählern bestimmt.
Anzumerken ist noch, dass Rot-Grün in den Städten tendenziell Sieger waren und Schwarz-Gelb auf dem Lande. Und wie schon bei fast allen Wahlen 2003/2004 hat die CDU ihren Erfolg vor allem den über 60-Jährigen, speziell den Frauen dieser Altersgruppe, zu verdanken. Sie bilden die mit Abstand stärkste Wählergruppe der CDU (49 Prozent!).
Eine Frage, die die Wahlforscher beschäftigte, war und ist die nach dem Einfluss der so genannten Visa-Affäre auf das Wahlverhalten. Die Mehrzahl ist mit Blick auf die Umfragen der Meinung, diese Affäre hätte keinen bemerkenswerten Einfluss gehabt. Es wird auch behauptet, dass diese Affäre zur Mobilisierung von CDU-Wählerinnen und -Wählern in letzter Minute beigetragen habe. Dem würde ich mich anschließen. Es wird seit einiger Zeit und auch mit Blick auf die vergangenen US-Präsidentschaftswahlen von der Forschung darauf hingewiesen, dass der Einfluss der Themen, mit denen sich gerade unentschlossene Bürger kurz vor der Wahl beschäftigen (Themen, die zumeist die Medien gerade dominieren), recht stark ist. Das ist eine ernst zu nehmende Hypothese. Endlich wissen wir, dass der Imageschaden für die Grünen gerade wegen der hohen Maßstäbe beim politischen Stil sicher ist. Unklar ist nur, wann und wie sich die Einstellungsänderungen bei den Bürgerinnen und Bürgern, speziell den Anhängerinnen und Anhängern der Grünen, bei Wahlen zu Buche schlagen. Bei dieser Landtagswahl jedenfalls brach der seit der Hessen-Wahl vor zwei Jahren bestehende generelle Aufwärtstrend der Grünen in der Republik erstmals.
Warum blieb der Protest aus?
Die Wahlbeteiligung war um 2,9 Prozentpunkte niedriger als die des Jahres 2000. Die “Sonstigen” kommen zusammen gerade auf 4,1 Prozent, die NPD bekommt 1,9 Prozent, die PDS 0,8 Prozent. Sicher hat der bundesweite öffentliche Druck auf die Rechtsextremen geholfen. Auch, das will ich deutlich hervorheben, der engagierte antifaschistische Wahlkampf unserer Genossinnen und Genossen in Schleswig-Holstein hat dazu beigetragen. Und es gab keine Proteststimmung wie etwa bei den ostdeutschen Landtagswahlen 2004. Das bedeutet: Potenzielle Protestwähler haben immer die Optionen Protestwahl, Nichtwahl oder Wahl einer neuen Regierung. Diesmal war der Wechsel die interessanteste Option. Azubis und Erstwähler, eine Gruppe, aus der sich gern rechtsextreme Parteien ihre Wähler fischen, konnten diesmal von der SPD überdurchschnittlich gebunden werden.
Was war mit der PDS?
Die PDS hat flächendeckend verloren und sich in absoluten Zahlen fast halbiert (von 20.544 Zweitstimmen im Jahr 2000 auf 11.774 in 2005).
Die Gründe waren einerseits hausgemacht: Mangel an bundespolitischer Präsenz der PDS, schwierige politische wie organisatorische Aufstellung des Landesverbandes, fehlende kommunalpolitische Verankerung des Landesverbandes.
Andererseits zeigt diese Wahl eindrucksvoll die ungebrochene Bindekraft der beiden großen Parteien, wenn sie denn einmal wirklich mit konträren Konzepten in die politische Auseinandersetzung gehen. Anders als ich sieht das Manfred Güllner, Chef des Berliner Forsa-Instituts. Güllner behauptet mit Blick auf die gesunkene Wahlbeteiligung und rund einem Drittel der Wahlberechtigten als Nichtwähler: “So bestätigt sich auch in Schleswig-Holstein der Trend der nachlassenden Bindungskraft der beiden großen Volksparteien …” 2 Ich meine, dass angesichts der katastrophalen Situation im Land und der nicht anders als mies zu bezeichnenden Stimmung die um 2,9 Prozent gesunkene Wahlbeteiligung geringer wiegen sollte als die Mobilisierungsfähigkeit der beiden großen Parteien.
Ein für die PDS hochbedeutsames Ergebnis dieser Wahl ist das massive Stimmensplitting der PDS-Wählerinnen und -wähler. Die PDS ist 2005 in neun Wahlkreisen mit Direktkandidatinnen und -kandidaten angetreten, das sind zwei mehr als im Jahr 2000. Eine bravouröse Leistung des kleinen Landesverbandes! Dass diese allesamt deutlich mehr Erststimmen als Zweitstimmen im jeweiligen Wahlkreis bekommen haben (Die Ergebnisse lagen zwischen 1,1 und 3 Prozent) zeigt erstens, dass es nach den guten Ergebnissen bei der Europawahl 2004 auch bei dieser Landtagswahl ein entsprechendes Potenzial (“Überzeugungstäter” nannte diese PDS-Erstwählerinnen und -wähler Uli Schippels) gab und zweitens, dass die PDS-Wähler ihre Stimmen massiv gesplittet haben. Sie sahen, so kann ich nur vermuten, wohl keine rechte Chance für einen Einzug der PDS in den Kieler Landtag, da ist die 5-Prozent-Hürde vor, und haben versucht, der Frau Simonis ihren Regierungshut zu retten. Interpretationen, dass es tatsächlich an diesen Stimmen gehangen habe, dürften nicht zutreffen.
Was bedeutet das Wählerverhalten (nicht das Wahlergebnis!) für die NRW-Wahl und darüber hinaus?
Meines Erachtens war das Wahlkampfangebot der CDU Schleswig-Holsteins erstmals ganz im Sinne von Angela Merkel. Gelingt es der CDU-Chefin, eine ähnliche Performance auch in Nordrhein-Westfalen durchzusetzen, dann könnte sich der Vorgang vom 20. Februar 2005 am letzten Sonntag im Mai wiederholen. Frau Merkel hat in jüngster Zeit immer wieder ihre Vorstellungen von einer Schlachtordnung 2006 erläutert: Das bürgerliche Lager will nicht den Diskurs und den Wettbewerb um kleinere Übel, sondern verheißt einen politischen Mehrwert, den Leuten soll es besser gehen. Sie behauptet die Existenz grundlegender Alternativen gegen die SPD-Phrase von der Alternativlosigkeit der Reformen des Sozialstaats, des rot-grünen Projektes generell. Der eine verspricht Mehrwert, Verheißung, der andere Risikominimierung, das kleinere Übel. Das ist ihre Sicht. Rot-Grün (Müntefering) versucht den Eigenen (im weiteren Sinne Traditionswählern der SPD) dabei zu helfen, in der Regierungspolitik “das Eigene als Eigenes zu erkennen”: Tradition im Wandel. Merkel will den Systemwechsel. Es wird, soviel scheint absehbar, ein hartes Ringen um die Deutungshoheit über die Umbrüche in Politik und Gesellschaft. Ideenpolitik, wie es Platzeck unlängst genannt hat.
Die PDS wird sich in dieser geistigen, wenn bestimmt nicht immer geistreichen, massenmedial, aber eben auch auf der Straße, in Kneipen, in den Häusern und Wohnungen geführten Auseinandersetzung zu behaupten haben.
Noch eins: Man unterschätze nicht die potenzielle Bindekraft des bürgerlichen Lagers! Diejenigen, die aus Enttäuschung über die SPD bei den Landtagswahlen 2004 in Sachsen und Brandenburg zur PDS kamen, könnte die CDU auch binden.
Freilich ist NRW ein sehr großes Land, politisch viel ausdifferenzierter und an Milieus reicher als das kleine Schleswig-Holstein. Rechtsextreme, aber auch ASG oder PDS sollten da bessere Möglichkeiten haben als in Schleswig-Holstein. Aber Vorsicht! Seit 1958 haben die “Sonstigen” bei Landtagswahlen in NRW niemals wenigstens vier Prozent erreicht.
Die PDS wäre sicher gut beraten, in einer solchen Situation nicht nur auf allgemeine Stimmungen zu setzen, sondern darüber hinaus äußerst genau ihr Angebot, ihren aktuellen Gebrauchswert für Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen herauszuarbeiten und engagiert, ehrlich und professionell auf den politischen Markt zu bringen.