Der Kanzler ist nackt

 

Das Wahlmanifest der SPD zeigt in aller Öffentlichkeit eine Regierung, die inhaltlich am Ende ist

(Veröffentlicht in: Disput, Juli 2005)

Dass die künftige Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wohl Angela Merkel heißen wird, scheint für die Mehrzahl der Deutschen heute festzustehen. Zwei Fragen sind allerdings nicht so leicht zu beantworten wie die der Schröder-Nachfolge: Woran beziehungsweise womit ist die Regierung Schröder eigentlich gescheitert, und was erwarten die Bürgerinnen und Bürger von einer Regierung Merkel? Auf die erste Frage hat die SPD-Führung im, auf die zweite Frage mit dem vorliegenden Wahlmanifest Antworten zu geben versucht.

Zur ersten Frage.

Gerhard Schröder war 1998 – damals noch mit Oskar Lafontaine – angetreten, das Land zu erneuern, den Sozialstaat insbesondere, die Wirtschaft fit zu machen für das 21. Jahrhundert und die Herausforderungen der Globalisierung anzunehmen. Innovation und Gerechtigkeit lautete damals das Leitmotiv. Die Massenarbeitslosigkeit entscheidend zu verringern, den Osten an diesen Aufschwung anzuhängen – wäre all dies eingetreten, es wäre völlig genug gewesen für die Leute.

Nicht lange nach Machtantritt bekam die Regierung Probleme, ihre Wahlversprechen umzusetzen. Dem Volk wurde mitgeteilt, dass es länger dauern werde, dass das Kohlsche Erbe in wenigen Jahren nicht beiseite geschafft werden könne und dass man später, vielleicht auch erst die Kinder, die Ernte einfahren werden.

Das gab es schon des Öfteren, dass eine Regierung so sprechen musste, und es hätten auch diesmal die Menschen damit leben können. Die Regierung sprach aber weiter (und handelte entsprechend!): Ihr müsst euch mit dem Gedanken vertraut machen, nicht nur auf die Erfüllung der von uns geweckten Wünsche vorerst zu verzichten, sondern ihr müsst auch die Kosten und die Entbehrungen des langen Reformweges auf euch nehmen. Die Regierung verlangte Geduld und Vertrauen und eine gewisse Bereitschaft, Härten zu ertragen.

Auch das wäre zu ertragen gewesen, wenn da nicht eine weitere Entwicklung eingesetzt hätte:

Für eine solche Zeit politischer Führerschaft durch die Reformwüsten ins Gelobte Land reklamierte die Regierung und speziell der Kanzler für sich das Recht, alle möglichen Mittel anzuwenden, um voranzukommen. Formen quasi präsidialer Herrschaft wechselten munter mit korporatistischen Pakten und Runden, die das Parlament, mitunter auch das Kabinett, suspendierten. Schlimmer aber war der Verlust des Sinns für Recht und Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten der Reformen. Eine Art Interimsethik griff im politischen Establishment um sich. Als Reaktion darauf versagte die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der Regierung Schröder die Gefolgschaft.

Faktisch war das bereits 2002 erkennbar. Die Flut und der Irak-Krieg sowie die Unfähigkeit des bürgerlichen Lagers, die Situation zu erkennen, retteten Schröder die Macht.

Diesen Fehler, sich für die Dauer der Reformen als Regierung in eine Art Ausnahmezustand versetzt zu sehen und den Blick für Recht und Gerechtigkeit zu verlieren, korrigiert das Wahlmanifest. Angesichts der Erfahrung, auf eine solche Art und Weise sieben Jahre regiert worden zu sein, ist es doch sehr fraglich, ob die SPD-Führung, ob Gerhard Schröder diese Korrektur glaubhaft machen kann.

Zur zweiten Frage.

An seinem Regierungsstil freilich hält Schröder seit 1998 fest. Dieser Stil manifestiert sich in der Agenda 2010. Wer will, kann ihn als neoliberales Projekt beschreiben. Präziser scheint der Stil im Sinne des englischen Philosophen M. Oakeshott als Politik der Zuversicht gefasst. Auch Schröder folgt unbeirrt der Idee der Besserung von Mensch und Gesellschaft mit den Mitteln der Politik. Er hängt ungebrochen dem Fortschrittsglauben an, Bildung und Technik führten zu immer größerem Wohlstand. In der Präambel des Wahlmanifests wird der Idealzustand der Gesellschaft exakt so und zudem noch als greifbar nahe beschrieben: Eine starke Wirtschaft, deren Erträge fair verteilt werden, die Grundlage ist für den Wohlstand aller. Einen starken und sozialen Staat, der seinen Menschen höchstmögliche (!) Sicherheit gibt. Eine menschliche Gesellschaft, die sich der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet fühlt. Wer würde das anders verstehen denn als den Zustand der Vollkommenheit?

Zugleich wird definiert, welche Rolle eine sozialdemokratische Regierung zu spielen hat. Es gibt drei Spieler: Die Wirtschaft ist für Wohlstand und Arbeit zuständig, der Staat ist für die Sicherheit verantwortlich und die Gesellschaft für die Moral. Das ist keineswegs eine Verkürzung aus darstellerischen Gründen, sondern das Grundverständnis über die Struktur von Gesellschaft. Die Regierung leitet das Spiel, sie setzt die Spielregel fest und begrenzt das Spielfeld (im Manifest ist die Rede von Leitplanken). Das heißt, sie setzt den Tätigkeiten der Menschen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft äußere Zwecke. So wird aus der Wirtschaft die soziale Marktwirtschaft, aus dem Staat der Sozialstaat und aus der Gesellschaft die menschliche (!) Gesellschaft. Nicht zufällig ist allenthalben im Manifest von Fairness die Rede.

Die nunmehr langjährige Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger mit dieser Art des Regiertwerdens, sei es durch Schröder oder Kohl oder Honecker, hat die heute zu beobachtende tief verwurzelte und weit verbreitete Skepsis hervorgerufen. Die Leute glauben, so auch der jüngste Bericht aus Allensbach vom 15.Juni 2005 (FAZ), nicht mehr an derartige Versprechen und sie erwarten nach der Wahl alles, nur keinen „Aufbruch“.

Wenn im Wahlmanifest immerzu von „Fortschritten“ der letzten sieben Jahre die Rede ist, dann geht es überhaupt nicht darum, ob dem Gerede tatsächliche Verbesserungen entsprechen, sondern es geht um die Behauptung des „Fortschritts“ schlechthin als Leitidee Schröderschen Regierungshandelns. Folgerichtig endet der allgemeine Teil des Manifests nach 11 Seiten mit der Behauptung: „Neuer Fortschritt (singular!) ist möglich“. Entscheiden aber werden die Wähler nicht danach, welche Partei ihre Wünsche und Hoffnungen zu erfüllen verspricht, sondern danach, wer ihre Skepsis wirklich ernst und annimmt.

Die Qualität eines politischen Manifests zeigt sich nicht zuletzt darin, wie substantiell und strategisch überlegt die Auseinandersetzung mit den politischen Konkurrenten und Gegnern geführt wird. Die zwei Seiten, die das Manifest unter den Überschriften „Die Sackgasse(n)“ und „Die Demagogen“ dem bürgerlichen Lager einerseits und PDS/WASG andererseits widmet, sprechen für sich.

Das SPD-Regierungsprogramm ist in 24 Punkten auf 27 Seiten ausgebreitet. Die Vorhaben im Detail zu kommentieren, wird Gegenstand einer Synopse sein, die das Wahlmanifest mit dem PDS-Wahlprogramm vergleicht. Hier soll ein Blick auf die drei Handlungsfelder Wirtschaft, Sozialstaat und Gesellschaft die Frage beantworten, ob wesentliche Veränderungen zum bisherigen Regierungshandeln beabsichtigt sind.

Wirtschaft:

Hier regiert weiterhin das Prinzip Hoffnung. Durch einen Mix von Angebots- und Nachfragepolitik soll „Vertrauen“ geschaffen werden, dies sei die Grundlage für höheres Wachstum und mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Die steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen (künftig einheitliche Besteuerung aller Betriebe, Umbau der Erbschaftssteuer, Erleichterung bei der Gewerbesteuer) werden mit „der Erwartung verbunden, dass die Unternehmen investieren und mehr Beschäftigung schaffen“. In Sachen Steuern und Abgaben und durch gesenkte Lohnnebenkosten seien die Unternehmen wettbewerbsfähig gemacht worden, nun seien sie „in der Pflicht“.

Ergänzt wird diese Politik der großen Hoffnung durch die Erwartung, die Kommunen würden steigende Einnahmen aus der Gewerbesteuer investieren, statt Schulden zu tilgen, durch die Weiterführung des Umbaus der Bundesagentur für Arbeit, durch Maßnahmen zum Schutz inländischer Arbeitnehmer (Kampf gegen Schwarzarbeit und Lohndumping) und durch singuläre Maßnahmen wie die geplante Absetzbarkeit von privaten Erhaltungs- und Modernisierungskosten, auf deren binnenkonjunkturelle Effekte man setzt.

Sozialstaat

Bemerkenswert sind hier nur zwei Dinge: der geplante Übergang zur Bürgerversicherung bei der Kranken- und Pflegeversicherung und die geplante Umwandlung des Erziehungsgeldes in ein einjähriges Elterngeld mit Einkommensersatzfunktion. Sonst bleibt im Grunde alles beim Alten.

Gesellschaft

Ein wenig Kunst und Kultur sowie Sport. Integrationspolitik, Kampf gegen Rechtsextremismus und Gender Mainstreaming. Ein Lob für bürgerschaftliches Engagement. Hier wird das Manifest ganz dünn. Zivilgesellschaft und der Einzelne scheinen definitiv aus dem Blick geraten.

Nach der Betrachtung der selbst erkannten und im Manifest benannten Möglichkeiten für künftiges Regierungshandeln auf den drei Kernfeldern tritt Ernüchterung ein. Politisch scheint die Regierung Schröder auch mit diesem Wahlmanifest uninspiriert, mut- und ratlos. Das ist das Manifest einer Regierung, die am Ende ist und keinen Neuanfang wagen will, ja, dafür nicht einmal eine Notwendigkeit erkannt hat. Ein bestürzender Befund.


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