(veröffentlicht in: Politische Berichte Nr. 4, 23. Februar 2006, S. 22/23)
1. Allgemeine Einordnung
Dies ist die erste Enzyklika des deutschen Papstes. Im Stil ist sie einladend, offen, ohne Diskriminierungen anderer Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Benedikt XVI. kennt die gegenwärtige Welt sehr genau und weiß um die Schwierigkeiten der katholischen Kirche, sich in dieser Welt zu behaupten. Seine Enzyklika ist weder vordergründige Sozial- oder Kulturkritik, auch kein Appell an die Staaten oder die Politiker. Es steckt darin keine Polemik mit Andersgläubigen und auch keine Strafpredigt ans eigene Kirchenvolk. Die Enzyklika breitet das katholische Selbstverständnis vor uns aus. Und sie ist selbstverständlich an die gerichtet, die als Adressaten auch genannt sind: an seine Kirche. Ihr Thema ist die Liebe Gottes als Wurzel des Sozialen, der Gemeinschaft der Menschen, der katholischen Kirche wie auch des Sozialstaates. Und ihr Thema ist die Gerechtigkeit als Grundsatz jeder gesellschaftlichen Ordnung der Menschen. Benedikt XVI. bestimmt die soziale Frage heute als die Frage nach Nächstenliebe und Gerechtigkeit.
2. Herausforderungen für sozialistische Politik und sozialistisches Denken
Mit „Gerechtigkeit und Liebe“ ist jener Passus im 2. Teil der Enzyklika (Kap. 26 bis 29) überschrieben, der sich mit dem Verhältnis von Staat und (katholischer) Kirche, Politik und Caritas befasst.
Die Argumentationen bewegen sich ganz im Rahmen der katholischen Staats- und Gesellschaftslehre. Neuerungen sind nicht erkennbar.
Die Herausforderung für sozialistische Politik wie für sozialistisches Denken besteht zum einen in der Behauptung dieser Auffassungen in der heutigen Zeit, „der Welt der Globalisierung der Wirtschaft“, wie es Benedikt XVI. ausdrückt.
Zum andern liegt für uns gerade in der Konfrontation dieser Auffassung mit der des Marxismus eine weitere Herausforderung.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es in der ganzen Enzyklika wie in dem hier zu besprechenden Abschnitt zuerst um die innerkirchlichen Angelegenheiten geht. So wird der Abschnitt, der zu „Gerechtigkeit und Liebe“ überleitet (Kap. 24), beschlossen mit der Feststellung, dass es innerhalb der Kirche, der Gemeinschaft der gläubigen Katholiken, keine Notleidenden geben solle. Innerhalb der Kirche selbst als einer Familie darf kein Kind Not leiden. Darin bestehe der spezifisch kirchliche Auftrag. Davon handelt die ganze Enzyklika.
Dies einmal vorausgesetzt, überschreite Caritas aber auch die kirchlichen Grenzen. Das Bild des barmherzigen Samariters stehe dafür, dass man sich auch dem Bedürftigen zuwenden solle, der einem zufällig begegnet.
Wenn also im Weiteren von Gemeinschaft die Rede ist und davon, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft an deren Gütern ihren Anteil haben sollen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass es zuerst immer um die Kirche selbst, die Gemeinschaft der Katholiken geht.
Benedikt XVI. beginnt mit einer Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Genauer gesagt ist dies eine Auseinandersetzung mit der Religionskritik des Marxismus des 19. Jahrhunderts: Almosen seien nur eine Entlastung des Gewissens der Reichen, damit würde sich die Lage der Armen nicht bessern. Die Kirche stabilisiere so nur die ungerechten Verhältnisse.
Soweit ist dies eigentlich nicht allein die marxistische Kritik an der Kirche, sondern eine Auffassung, die eng mit dem Denken und der Periode der europäischen Aufklärung verbunden ist. Marxistisch (oder besser: kommunistisch) könnte man die Pointe der Kritik, den Vorschlag zur radikal andern Lösung des Problems der Gerechtigkeit, bezeichnen, nämlich (mit des Papstes Worten) eine Ordnung der Gerechtigkeit zu schaffen, in der alle ihren Anteil an den Gütern der Welt erhielten.
Die Worte sind sorgfältig gewählt. Richtig daran sei, „dass das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit sein muss und dass es das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung bildet, unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips jedem seinen Anteil an den Gütern der Gemeinschaft zu gewähren“.
Man merke: Hier ist vom Staat die Rede und von den Gütern der Gemeinschaft. Das bedeutet, es geht um die Staatsbürger und um deren Anteil an dem, was ihnen als solchen, dem Staat also, eigen ist. Es geht eben nicht um den Anteil aller an den Gütern der Welt.
Wovon ist die Rede? Vom Eigentum. Von sonst gar nichts. Die Güter der Welt sind eben nicht Gemeineigentum irgendeiner realen Gemeinschaft, weder der des Staates noch der Kirche. Sie sind es zu Teilen, aber eben auch (und, man glaube nicht, der Papst wäre nicht von dieser Welt!) und vor allem Privateigentum. Und daran sei nicht zu rütteln: Der realsozialistische (eigentlich kommunistische) Traum, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel mache alles plötzlich anders und besser, sei zerronnen.
Man kann es auch so sagen: Diese Enzyklika ist, auch wenn das Wort „Eigentum“ darin nicht einmal vorkommt, eine Apologie bestehender Eigentumsverhältnisse, speziell des Privateigentums an Produktionsmitteln.
Wenn in der Enzyklika also der Frage nachgegangen wird, wie Gerechtigkeit herzustellen sei und worin sie bestehe, dann immer unter diesen Voraussetzungen. Wie ist unter den Bedingungen des Privateigentums an Produktionsmitteln, einem gewissen Gemeineigentum auch, heute Gerechtigkeit zu denken und herzustellen?
Eine erste Antwort lautet: Gerechtigkeit ist nur innerhalb von Gemeinschaften herzustellen. Sie basiert jeweils auf dem Gemeineigentum der Gemeinschaftsmitglieder und ist primär eine Frage der gerechten Verteilung. Gerecht aber ist die Verteilung dann, wenn nach dem Subsidiaritätsprinzip verteilt wird: „Jedem das Seine.“
Eine zweite Antwort lautet: Diese Verteilungsgerechtigkeit innerhalb bestehender Gemeinschaften ist immer wieder neu herzustellen und nie wirklich zu erreichen. Warum? Weil das Motto: „Jedem das Seine!“ eben nicht nur diese innergemeinschaftliche Anteilnahme meint, sondern auch die Art und Weise, wie die Gemeinschaften selbst und ihre Mitglieder zu Gütern kommen. Das geschieht zum überwältigenden Teil durch den Austausch dessen, was man auf privatkapitalistischer Basis produziert hat und, für die Masse der Lohnabhängigen, dass sie einen Anteil am Ertrag des von ihnen mit Produzierten bekommen. Kurz: „Jedem das Seine!“ meint neben dem in Gemeinschaft jedem Mitglied zustehenden Anteil eben auch den Anteil am Gewinn des produzierten Reichtums, den der Markt, also die Gesellschaft, hergibt.
Wenn der Papst davon spricht, dass das „Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung, durch die jedem das Seine wird, .“ eine grundlegende Aufgabe (ist), der sich jede Generation neu stellen muss“, dann ist damit also erstens der innergemeinschaftliche Ausgleich zwischen den Mitgliedern gemeint – auf Staatsebene für die Staatsbürger, zuerst aber innerhalb der Gemeinschaft der katholischen Kirche. Zweitens ist damit aber auch gemeint, dass es bei der Verteilung des Gewinns, also auf dem Markt, gerecht zu gehen soll. Man kann nun unterstellen, dass es dazu Hinweise in der katholischen Staats- und Gesellschaftslehre gibt, etwa solche, die Arbeitsverhältnisse betreffen, die Entlohnung usw. Dass der Staat hierbei eine regulierende Funktion haben sollte, kann man mit Blick auf die gültige katholische Lehrmeinung ebenso unterstellen.
In dieser Enzyklika ist davon keine weitere Rede. Es wird nur eine Grenze markiert, wenn dem „totalen Versorgungsstaat“ eine Absage erteilt wird.
Die Enzyklika überlässt die Frage nach der Gerechtigkeit der praktischen Vernunft und der Politik, bestätigt aber die „reinigende“, d.h. ethisch leitende Rolle des Glaubens und der Kirche. Interessanterweise wird dies wieder nur für das innergemeinschaftliche Verhalten der Gläubigen thematisiert, für die Rolle des Glaubens bei der Caritas und eben für das Engagement von Katholiken als Staatsbürger, also in der Politik. Der Katholik als Citoyen ist „berufen, persönlich am öffentlichen Leben teilzunehmen“ und „das gesellschaftliche Leben in rechter Weise so zu gestalten, indem sie dessen legitime Eigenständigkeit respektieren und mit den andern Bürgern gemäß ihren jeweiligen Kompetenzen und in eigener Verantwortung zusammenarbeiten“ .
Wohlgemerkt: hier ist immer vom Staat und vom Staatsbürger, Citoyen, die Rede und nicht von der Wirtschaft und vom Bourgeois. über Gerechtigkeit nach katholischem Maßstab für das Wirtschaftsleben schweigt Benedikt XVI. in dieser Enzyklika.
3. Fazit:
Zustimmen kann man dem Papst darin, dass das politische Ziel des Staates und der Politik die Verfolgung der Gerechtigkeit für seine Bürger sein sollte. Schutz der Güter der Gemeinschaft, d.h. des Gemeineigentums, eine bedachte Bewirtschaftung desselben sowie die Garantie eines gerechten Anteils daran – das sind auch Maßstäbe sozialistischer Politik.
Zustimmen können Sozialistinnen und Sozialisten auch der Forderung, dass das Streben nach Gerechtigkeit das jeweils eigene Gemeinwesen transzendieren sollte. Die These von der Universalität der Gerechtigkeit ist auch die unsere.
Zustimmen können wir gleichfalls der These, dass staatliches Handeln niemals zu einem Zustand vollendeter Gerechtigkeit führen kann und dass keine noch so gerechte Staatsordnung gelebte Solidarität, Menschlichkeit, den „Dienst der Liebe“, überflüssig machen wird.
Alles, was Benedikt XVI. zur Caritas sagt, die mehr sein muss als bloße kommerzialisierte und professionalisierte „Dienstleistung am Menschen“, können wir unterstützen. Freilich sollten wir die Praxis der Kirchen auf diesem Gebiet in Deutschland nicht ignorieren. Weit überwiegend werden diese Dienst1eistungen, von kirchlichen Trägem und Einrichtungen erbracht, durch Steuermittel finanziert. Das spezielle Arbeitsrecht in den entsprechenden Tendenzbetrieben wird nicht selten rigider gehandhabt als der sanft ermahnende Ton, den der Bischof von Rom hier anschlägt, erahnen lässt.
Die wesentliche Differenz zwischen katholischer Lehrmeinung, wie sie auch in dieser Enzyklika geäußert wird, sollte sozialistische Politik in der Frage haben, wie Gerechtigkeit im Sinne eines Anteils aller Menschen an den lebensnotwendigen Gütern, wir nennen sie Freiheitsgüter, unter der Bedingung hergestellt werden kann, dass diese Güter heutzutage weit überwiegend nicht mehr gemeinschaftlich, sondern auf der Grundlage privatkapitalistischer Produktion erzeugt und ausgetauscht werden. Wir sind der Auffassung, dass Politik, Gesetz, dass der Staat hier regulierend eingreifen muss. Und wir sind auch der Auffassung, dass die Vorherrschaft kapitalistischen Eigentums an den hauptsächlichen Produktionsmitteln durch umfassende Demokratisierung gesellschaftlicher Grundentscheidungen und der Verfügung über hochkonzentriertes Kapitaleigentum und Finanzfonds gebrochen werden muss.
Am Ende sollten Sozialistinnen und Sozialisten sich im Dialog und in der Auseinandersetzung mit Katholikinnen und Katholiken auf die für beide Seiten deutlich erkennbaren Chancen des Staates und der Politik für eine gerechtere Ordnung der Gesellschaft konzentrieren und im Bewusstsein der jeweils an andren Stellen gesetzten Grenzen von Staat und Politik die Kooperation im Interesse der Schwächsten unter uns suchen.