Eine politische Ethik nicht nur für Liberale

 

Rezension: Ralf Dahrendorf: „Versuchungen der Unfreiheit”, C. H. Beck Verlag, München 2006

 (veröffentlicht in: Neues Deutschland, 6./7.Mai 2006, S.21)

Der Soziologe Ralf Dahrendorf stellt die sehr merkwürdige Frage, was manche Menschen in Zeiten von Faschismus und Kommunismus immun machte gegen die totalitären Versuchungen. Wir sind so zu fragen nicht gewohnt. Geht es um den Nationalsozialismus, dann verfallen wir stets auf die pädagogische Lieblingsfrage der Nachkriegsdeutschen: Warum haben so viele mitgemacht von 1933 bis 1945? (Die Frage nach den Versuchungen des Stalinismus scheint nach wie vor Dissidenten und Renegaten zur Beantwortung vorbehalten.)

 

Dahrendorf weiß das. Auch ist ihm klar, dass das öffentliche Interesse zuerst den Widerstandskämpfern und den Märtyrern gilt. Vielleicht, so Dahrendorf, sind die Widerstandskämpfer im Vergleich mit denen, die nur immun geblieben waren, die besseren Menschen, verdienen jedenfalls mehr Respekt. Dennoch stellt er die andere, seine Frage: „Was ist überhaupt das Geheimnis des unversuchbaren liberalen Geistes?”

 

Die ist kein Buch über den politischen Liberalismus. Dahrendorf analysiert die liberale Haltung. Er berichtet nicht von liberalen Theoretikern oder Parteigängern, sondern von Menschen, die sich ob dieser Haltung immun erwiesen gegenüber den Versuchungen der Unfreiheit.

 

Das waren von den Jahrgängen, die Dahrendorf berücksichtigt (er befasst sich hauptsächlich mit Menschen, die zwischen 1900 und 1910 geboren wurden), nicht eben viele. Dahrendorf grenzt den Personenkreis auf die „öffentlichen Intellektuellen ein. Menschen, die sich nicht allein durch bloße Treue zu liberalen Ideen und Überzeugungen auszeichnen, sondern dadurch, dass sie diese Ideen der Freiheit öffentlich vertreten haben. Liberale Geister, die erkennbar und erinnerbar die Umstände ihrer Zeit bewegt und aufgerüttelt haben. Seine These ist, dass diejenigen öffentlichen Intellektuellen, die sich in Zeiten des Faschismus und Kommunismus bewährten, uns Einblick geben in den Geist der Freiheit.

 

Das klingt elitär. Es so zu verstehen hieße es miss zu verstehen. Es geht nicht um Ikonen oder um Vorbilder: „Wer bleibt stark, wenn die meisten schwach werden?” Eine ethische Fragestellung also. Dahrendorf liefert uns mit diesem Buch eine Tugendlehre der Freiheit.

 

Seiner Totalitarismustheorie muss man nicht folgen. Die Versuchungen der Unfreiheit im 20. Jahrhundert hat er treffend beschrieben: „Gemeinschaft, ein Führer und verklärende Romantik der Sprache einerseits, die Partei, die Hoffnung auf das Paradies auf Erden und die Aura des Religiösen andererseits…”.

 

Dahrendorfs Freiheitsbegriff ist ebenso einfach wie emphatisch: „Freiheit ist im Kern immer die Fähigkeit und der Wille zu tun und zu lassen, was man will. Freiheit ist das Fehlen von Zwang.” In der wirklichen Welt bedeutet Freiheit immer, dass die Begrenzungen und Zwänge des Tuns und Wollens von Individuen so gering wie möglich gehalten werden. Das ist der Grundsatz jeder Verfassung der Freiheit, jeder liberalen Ordnung. Dabei ist Freiheit mehr als die bloße Möglichkeit. Sie ist, will man sie nicht riskieren, immer tätige Freiheit.

 

Wären bloße Einsicht und Erkenntnis hinreichend, Freiheit als Ordnung durchzusetzen, bedürfte es keiner Tugendlehre. Aber es bedarf des Mutes, die Idee der Freiheit in einer feindlichen Umgebung zu vertreten und der Gerechtigkeit als des Sinnes dafür, dass es im Zusammenleben der Menschen Gegensätze und Widersprüche gibt, sie sich nicht ausräumen, sondern nur anständig ertragen lassen. Neben die Kardinaltugenden des Mutes und der Gerechtigkeit treten die der Besonnenheit des engagierten Beobachtens, der Wahrheit verpflichtet, und die der Weisheit der leidenschaftlichen Vernunft, einer Haltung der Bereitschaft, kritische Argumente anzuhören und aus der Erfahrung zu lernen.

 

Menschen wollen ihr eigenes Leben führen. Dies ist nicht nur aus Gründen der äußeren Umstände schwierig, sondern auch wegen der erforderlichen Anstrengung des Einzelnen. Tätige Freiheit, meint Dahrendorf, will gelernt sein und dabei liegen, wie bei allem Lernen, Versuch und Irrtum nahe beieinander. Damit beginnt Dahrendorf eine zweite Geschichte zu erzählen, die des Opportunismus der Intellektuellen. Er tut dies hellsichtig und entschieden, aber ohne jede moralisierende Attitüde. Die lässliche Sünde der Anpassung beschreibt er als eine zeitweilige Form der Existenzsicherung. Norberto Bobbio, der große linke italienische Philosoph verfiel ihr ebenso wie der Nestor der deutschen Politikwissenschaft nach 1945, Theodor Eschenburg. Dahrendorf analysiert die innere Emigration des tschechischen Philosophen und Bürgerrechtlers Jan Patocka, das reine Schauen eines Ernst Jünger. Das Exil als Not, Chance und Kult war für bestimmte Intellektuelle charakteristisch. Für andere wurde die Neutralität zum Geschenk und zur Schwäche. Das Beben des 20. Jahrhunderts hatte viele Länder erfasst.

 

Die Nachkriegszeit markiert Dahrendorf durch die Jahreszahlen 1945, 1968, 1989 und 2001.

Seine These ist, dass mit dem Ende des Totalitarismus die Geschichte als Entwicklung der offenen Gesellschaft nach Jahrzehnten der fruchtlosen Konfrontation der Systeme neu beginnt. Die liberale Ordnung könnte zum Dauerzustand werden, die Bürgergesellschaft zur großen Hoffnung. Wenn da nicht nichtsäkulare Gesellschaften wären, denen die liberale Ordnung fremd ist. Zum andern entstehen neue Gefährdungen dadurch, dass das unantastbare Grundprinzip der Herrschaft des Rechts zur Disposition gestellt wird. Einschränkungen der Grundrechte wie der Menschenrechte sind an der Tagesordnung. Folter ist kein Tabu mehr. Hinzu tritt als neue Gefährdung ein gewisser Autoritarismus, eine Herrschaft bestimmter Gruppen über moderne Gesellschaften. Wohlstand ohne Politik, Wirtschaftswachstum ohne Bürgergesellschaft bedeuten das Ende der Freiheit.

 

Die sozialistische Linke hat auch eine libertäre Tradition. In der Linkspartei.PDS ist sie seit dem Außerordentlichen Parteitag 1989 Programm. Man lese die Rede des verstorbenen Michael Schumann nach, das Ingolstädter Manifest von Gregor Gysi, den Kommentar zum Parteiprogramm von den Gebrüdern Brie, Dieter Klein u. a., Lothar Bisky hat 1995 in „Freiheit oder Sozialismus?” Kunde von dieser Tradition gegeben. Radikaler als im geltenden Parteiprogramm, als im Anspruch aller auf freien Zugang zu dem, was der Mensch zum Leben braucht, zu den Freiheitsgütern eben, kann man libertäre Positionen, die Idee der Freiheit nicht vertreten. Dazu gehört auch, was Dahrendorf so formuliert: „Die Überzeugung von der universalen Geltung bestimmter Werte ist immer auch eine Verpflichtung, diese überall zu vertreten.”  Das ist heute nicht mehr unumstritten. In diesem Buch findet man auch  Sätze wie den von Jeanne Hersch, der 1982 verstorbenen Schweizer Philosophin und Publizistin: „Man kann mich nicht um den Finger wickeln, indem man mir weismachen will, dass ich für den Verzicht auf die demokratischen Freiheiten soziale Gerechtigkeit oder irgendwelche <konkreten Freiheiten> erhalte.” Die Alternative laute: Freiheit und Gerechtigkeit oder keine Freiheit und keine Gerechtigkeit. So ist es! Und angesichts neuerdings wieder gängiger Rituale soll noch Noberto Bobbio zu Wort kommen: „Kultur…ist intellektuelle Ausgewogenheit, kritische Reflexion, Unterscheidungsfähigkeit und ein Horror vor allen Vereinfachungen, vor Manichäismus und Parteilichkeit.”

Wie gesagt: Ein Buch, nicht nur für Liberale.


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