Das Phänomen Wygotski

(Veröffentlicht 1987)

 

Es ist sehr zu begrüßen, daß der Verlag Volk und Wissen zum 70. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution der psychologisch interessierten Öffentlichkeit der DDR die zweibändige Ausgabe Ausgewählter Schriften eines der bedeutendsten sowjetischen Psychologen nunmehr mit dem Band 2 abgeschlossen vorlegt. Wie nur wenige Psychologen dieses Jahrhunderts hat Lew Semjonowitsch Wygotski (1896 bis 1934) das psychologisch-pädagogische Denken unserer Zeit beeinflusst.

Als der Achtundzwanzigjährige im Jahre 1924 seine Tätigkeit am Psychologischen Institut in Moskau aufnahm, hatte er einen langen Weg geistiger Entwicklung zurückgelegt, der ihn mit Notwendigkeit dazu führte, gerade auf dem Gebiet der Psychologie zu forschen. Er hatte sich dem Jurastudium, historisch-philologischen und vor allem philosophischen Studien gewidmet. Er schrieb glänzende Theaterkritiken (Analyse des „Hamlet”), ins Gebiet der Psychologie der Kunst hinüberführen Die wenigen bisher in der DDR veröffentlichten Arbeiten „Denken und Sprache” (1964),  „Psychologie der Kunst” (1976) und zwei Beiträge im Anhang zu Elkonins “Psychologie der Kunst” (1980) vermitteln nur ein unzureichendes Bild von den theoretisch-methodologischen und empirisch-experimentellen Leistungen und der historischen und aktuellen Bedeutung Wygotskis für die Entwicklung der marxistischen Psychologie. Rund 180 Arbeiten hat er in knapp zehn Jahren hinterlassen. Großen Einfluß haben sie auf das Schaffen seiner Mitarbeiter und Schüler Leontjew, Luria, Boshowitsch, Elkonin -,um nur einige zu nennen, die auch unseren Pädagogen bekannt sind.

Wenn es in unserem Land um die Diskussion der pädagogisch- psychologischen Grundlagen der Weiterentwicklung des sozialistischen Bildungswesens geht oder um ein noch besseres Verständnis der Probleme der psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Schulalltag, dann beweisen Wygotskis Ideen nach wie vor ihre anregende Kraft und Aktualität.

Der erste Band der Ausgewählten Schriften führt uns an die Quelle, zum Ausgangspunkt wichtiger Entwicklungen der sowjetischen Psychologie. Wir betreten gewissermaßen die Werkstatt Lew Wygotskis, erleben fasziniert mit, wie er mit den damaligen theoretischen und methodologischen Problemen einer Psychologie ringt, die sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach in einer Krise befand. In der Auseinandersetzung mit Ch. und K. Bühler, O. Kroh, K. Koffka, W. Köhler u. a. gewann Wygotski Grundpositionen, die heute jedem Lehrer als gesichert gelten. Dazu gehören die These von der eminenten Bedeutung der praktischen Tätigkeit, der Arbeit für die psychische Entwicklung, die These von der Vermitteltheit der psychischen Funktionen durch „psychische Werkzeuge” und die These von der kulturhistorischen Determination der Persönlichkeitsentwicklung, mit der er zum Begründer der “Kulturhistorischen Schule” der sowjetischen Psychologie wurde. Erinnert sei auch an das Konzept der “Zone der nächsten Entwicklung”, ein fester Bestandteil heutiger Entwicklungspsychologie. Wygotski hatte einen bedeutenden Anteil am Aufbau des sowjetischen Bildungs- und Erziehungssystems, er wirkte unmittelbar an der Realisierung des Übergangs der Schule vom Komplexunterricht zum Fachunterrichtssystem Anfang der 30er Jahre mit. Darüber hinaus war er auch als Praktiker in der Kinderberatung tätig und beschäftigte sich intensiv mit der anormalen psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sein Verständnis der jungen Menschen, gewonnen durch eigene praktische Erfahrung und seine theoretische Tiefgründigkeit, sind die Basis für die außergewöhnlich verständliche und .fesselnde Darstellungsweise.

Dies trifft besonders auf den Text des zweiten Bandes zu. Der praktisch tätige Lehrer wird durch die problemorientierte Herangehensweise Wygotskis leicht einen Zugang finden. In diesem Band werden wir zunächst mit dem Problem der Altersstufen, ihrer Struktur und Dynamik, vertraut gemacht. Ein weiterer Abschnitt ist dem Säuglingsalter gewidmet. Wygotski führt uns darin an die für das Verständnis aller Altersstufen so wichtigen Begriffe “soziale Entwicklungssituation” und „grundlegende psychische Neubildung” heran. Besonderes Interesse wird der Darstellung von Krisen als wichtiger Phasen der Persönlichkeitsentwicklung entgegengebracht. Wygotski analysiert die Krisen des  1., 3. und 7. Lebensjahres. Konsequenterweise diskutiert er dabei den Zusammenhang von Unterricht und geistiger Entwicklung im Vorschul- und Schulalter.

Den größten Teil des zweiten. Bandes nimmt eine Auswahl von Kapiteln aus seinem Buch “Pädologie des frühen Jugendalters” ein. Dieses Buch erschien 1930/31 als Lehrmaterial für die Volksbildung. Damals wie heute findet die gelungene pädagogisch-psychologische Darstellung des Übergangsalters zu Recht große Beachtung. Die ausgewählten Kapitel beschäftigen sich mit der Entwicklung der Interessen, des Denkens und der Sprache, der höheren psychischen Funktionen, mit Phantasie und Schöpfertum der Jugendlichen sowie generell mit der Struktur und Dynamik ihrer Persönlichkeit. Die Ausgabe vervollständigen ausführliche Vor- und Nachworte von Elkonin, Leontjew, Jaroschewski und Gurgenidse, die den Leser, zusammen mit den Vorworten des Herausgebers gut in die Zeit und Ideenwelt Wygotskis einführen.

Fragen wir uns, warum Lew Wygotski so erfolgreich gewesen ist, so finden wir die Gründe erstens darin, daß er die Probleme von den Positionen des Marxismus-Leninismus aus analysierte, zweitens auf seinem Fachgebiet, der Entwicklungspsychologie, auf der Höhe seiner Zeit war und sich drittens stets um die Überprüfung der Befunde in Experiment und Praxis bemühte.


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