Rezension: Lew Wygotski: Ausgewählte Schriften, Band 2

Bedeutender Theoretiker der jüngeren Psychologie

(Veröffentlicht in: ND vom 19./20.September 1987, S.14)

Lew Wygotski: Ausgewählte Schriften, Band 2. Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Hrsg.: Joachim Lompscher. Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1987. 696S., Leinen, 27,30 Mark.

 

Mit der nun abgeschlossenen Ausgabe ausgewählter Schriften in zwei Bänden und den vor Jahren erschienenen Monographien „Denken und Sprechen“ (1964), „Psychologie der Kunst“ (1976) liegt dem deutschen Leser ein guter Teil der Arbeiten von Lew Semjonowitsch Wygotski (1896 bis 1934) vor. In den nur knapp zehn Jahren seiner beruflichen Tätigkeit entwickelte er sich zu einem der bedeutendsten Theoretiker der Psychologie des 20. Jahrhunderts.

Rund 180 Arbeiten hat er hinterlassen. Während der 1985 erschienene Band 1 mit seinen. wichtigsten Schriften zu theoretischen und methodologischen Problemen bekannt machte, faßt der umfangreichere zweite Band Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, insbesondere des Kindes- und Jugendalters, zusammen. Der pädagogisch und psychologisch interessierte Leser wird mit Gewinn die Überlegungen Wygotskis zur Kenntnis nehmen. Hier ist er gewissermaßen an der Quelle, am Ausgangspunkt wichtiger Entwicklungen der sowjetischen Psychologie. Es ist faszinierend nachzuerleben, wie Wygotski mit den damaligen Problemen ringt und dabei Grundpositionen entwickelt, die heute, ein halbes Jahrhundert später, wieder hochaktuell sind.

Wygotski war in der Auseinandersetzung so erfolgreich, weil er erstens die Probleme von den entwickelten philosophischen Positionen aus, denen des Marxismus-Leninismus, analysierte, zweitens auf seinem Fachgebiet, der Entwicklungspsychologie, auf der Höhe seiner Zeit war und drittens sich stets um experimentelle Überprüfung der Befunde bemühte.

Vieles von dem, was er zur Lage der damaligen Psychologie im einzelnen sagte, was er an Analysen zu Grundbegriffen, Modellvorstellungen von Entwicklung, zur Periodisierung u. a. fertigte, ist heute noch lesenswert. Manches, etwa das Konzept der „Zone der nächsten Entwickung“, ist fester Bestandteil heutiger Entwicklungspsychologie.

Die Texte Wygotskis sind nicht leicht zu lesen. Meist sind sie für einen speziellen Zweck verfasst worden. Vielfach setzen sie in ihrer Polemik für den heutigen Leser psychologiehistorisches Wissen voraus. Hier hilft die Einleitung des Bandes aus der Feder von Daniil Elkonin – einem der prominentesten Mitarbeiter und Nachfolger Wygotskis. Er gehört zu den Herausgebern der von 1982 bis 1985 in Moskau erschienenen sechsbändigen Wygotski – Werkausgabe, die der deutschen Auswahl zugrunde liegt.


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