Johann Friedrich Herbarts Psychologie zwischen Französischer Revolution und deutscher Misere

(Veröffentlicht in: Psychologie und Geschichte, 2. Jahrgang, Heft 2, S.77 – 80)

 

Zusammenfassung: Johann Friedrich Herbarts Psychologie ist als seine persönliche Antwort auf die Epochenproblematik der deutschen Intellektuellen zu verstehen. Das Scheitern der Großen Französische Revolution und die zurückgebliebenen deutschen Zustände führte Herbart auf das Versagen der Menschen zurück. Psychologie und Pädagogik sollten Besserung bringen.

Summary: Johann Friedrich Herbart’s psychology has 10 be seen as his personal answer to the difficulties that German intellectuals had in that epoch. The defeat of the Great French Revolution and the backwardness within Germany were due to human failure. He expected improvement from psychology and pedagogics.

Vorbemerkung

 

Es ist für einen jungen Psychologen der heutigen Zeit eine Zumutung, Herbarts Texte zu lesen. Aber ich kann Ihnen versichern, eine ebensolch große Zumutung wäre dies für einen jungen Philosophen, der mit seinen philosophischen Lehrern eben die Hauptwege der europäischen Philosophiegeschichte durchwandert hat. Nun ist es ein Verdienst der Psychologie- und Philosophiegeschichtsschreibung dieses Landes, darauf hingewiesen zu haben, daß gerade unsere psychologischen Ahnen sich lieber abseits dieser philosophischen Hauptwege aufhielten, ja, daß gerade der philosophische Königsweg, die klassische deutsche Philosophie von Kant bis Hegel, nicht zur beginnenden Geschichte der modernen deutschen Psychologie führte.

Daß das kein Zufall war, ist vielfach nachgewiesen. Mich interessierte daran immer, wie philosophisches Denken und einzelwissenschaftliches, theoretisch -psychologisches Denken und empirische Forschung bei Leuten wie Tetens, Beneke, Carus, Lotze, Wundt u. a. zusammenging. Will man aber die philosophischen und psychologischen Denkformen unserer alten Psychologen verstehen, so muß man sich auf deren Sprache einlassen. So auch bei Herbart. Das Resultat derartiger Einlassung war bei mir ein Text, dessen Verständnis diese Sprachkenntnis bei Ihnen voraussetzt. Um diesem kommunikativen Hemmnis auszuweichen habe ich mich entschlossen, hier mein Thema mehr aus eigenem, heutigen wissenschaftlichem Selbstverständnis heraus als aus dem Zustande der seligen Versunkenheit in die Sprache des philosophischen und psychologischen Denkens des beginnenden 19. Jahrhunderts heraus anzugehen.

 

Einleitung

 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Herbarts Geschichte zu erzählen. Die kürzeste Geschichte ist wohl die folgende: Herbart, als junger Mann sehr mit sich selbst beschäftigt, erlebt das Scheitern der Französischen Revolution als Versagen der sie tragenden Menschen. Er lernt daraus, daß es zunächst und wohl überhaupt darauf ankommt, die Menschen zu bessern. Das kann er aber nur, wenn er bei sich selbst damit beginnt. Um aber die Bildung seiner selbst und der anderen ins Werk setzen zu können bedarf es der Erkenntnis eigener Unvollkommenheit (Psychologie) und des Know-hows der Menschenbildung (Pädagogik).

Die Deutschen sind die Meister im Verschlafen und Vermasseln von Revolutionen. Derart immer auf sich selbst zurückverwiesen, haben sie und vor allem ihre Intellektuellen, einen ausgeprägten Hang zum Psychologisieren und zur Psychologie. Dabei sind sie im einzelnen durchaus originell. Und genau diese Frage nach der spezifischen Gestalt Herbartseher Psychologie als Antwort auf die Epochenproblematik deutscher Intellektueller zwischen Französischer Revolution und deutscher Misere bleibt in der eben erzählten Kurzgeschichte Herbarts offen. Darum will ich etwas weiter ausholen.

 

Warum gerade Herbart?

 

Präferenzen in der Zuwendung von Wissenschaftshistorikern zu bestimmten Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte haben – wenn sie nicht vom Markt diktiert werden – oft sehr persönliche Gründe. Herbart ist einer, den ich nicht mag. Das liegt daran, daß dessen vornehmliches Begehren darin bestand, an andern herumzumodeln. Das Verfahren, Erziehung genannt, Leute nach dem eigenen Bilde zu formen, das mochten wohl auch viele von Herbarts Zeitgenossen an sich nicht ausprobieren lassen. Herbart also, vermute ich, war nicht sehr beliebt. Und ich behaupte, das wäre anders gewesen, wenn er das Dasein eines Rentiers gefristet hätte. Wie Schopenhauer etwa. Aber nein, der Hauslehrer Herbart, der Ästhet, der Schöngeist, der auf Innerlichkeit bedachte, der Harmonieversessene, er musste ja unbedingt in großem Stile versuchen, Ebenbilder seiner selbst zu schaffen. Und wie es kommen muß, wenn das Fichtesche Ich in Person von Herbart sich in der Geschichte als ein Vielfaches seiner selbst setzen will und sich dazu in die Geschäfte einer schlechten deutschen Realität einmischt: Es stiftet Unheil, dieses Ich, und es erntet Undank, bevor es Jahre später von den Herbartianern verwurstet und vermarktet wurde. Sehen wir kurz auf Herbarts Biographie, so steht solches Unheil, welches politischer Art war, am Anfang wie am Ende seines akademischen Lebens.

Die Jenaer Gesellschaft der freien Männer bestand von 1794 bis 1799. „Im Wirken der Gesellschaft der freien Männer, das nicht zufällig mit Fichtes Jenenser Periode zusammenfällt, widerspiegelt sich in einem für die weltanschauliche Entwicklung der deutschen Intelligenz entscheidenden Jahrfünft und an einem für die ideologische Konzeptbildung im damaligen Deutschland zentralen Ort die Problematik einer jungen Generation, welche sich im Schnittpunkt der von Friedrich Schlegel auf den Begriff gebrachten drei Tendenzen des gegenwärtigen Zeitalters – ,Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister‘ – dem Widerspruch ausgeliefert sah zwischen dem eigenen Bewußtsein von einer im Umbruch befindlichen Epoche und den nichtrevolutionären und zurückgebliebenen deutschen Zuständen.“ (1) Die Geschichte des Bundes ist rasch berichtet: erste, radikale Phase unter Fichtes Wort: Handeln, Handeln, das ist es, wozu wir da sind! Zweite Phase, der Bund hat sich auf obrigkeitlichen Druck hin nur mit sich selbst zu befassen. Parole: Erziehung der Erzieher! Das ist Herbarts Metier. Seit November 1794 Mitglied sollten seine ersten Beiträge dazu dienen, das ästhetische Vermögen aller zu befördern. Deklamation und Klavierspiel – das war Herbarts Beitrag zur Epochenproblematik. Dritte Phase, der Bund treibt einen überschwänglichen Freundschaftskult und Kollektivismus, bevor in der letzten Phase die Differenzen untereinander zur Auflösung treiben.

Die zweite Episode ist die aus dem Jahre 1837, als Herbart als Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen die Proteste der „Göttinger Sieben“ gegen die Aufhebung der Verfassung ausdrücklich und öffentlich mißbilligte. Damit war er nun auch bei Leuten wie Diesterweg unten durch, die wohl erkannten, was für ein Typus Mensch Herbarts Idealen und seiner Pädagogik entspringen sollte. Biographisch scheint also nicht viel für Herbart zu sprechen. Aber das scheint eben nur so. Herbart ist doch spannend in der Art, wie er die Epochenproblematik denkend bewältigt hat. Schließlich ist dabei auch eine Wissenschaft Psychologie herausgekommen. Sehen wir uns also die Begründung seiner Psychologie daraufhin an.

 

Selbstvervollkommnung des Individuums als Aufgabe 

 

Fichtes unmittelbare Wirkung auf seine Zeitgenossen war eine ungeheure. Vielen verging, konfrontiert mit der Wissenschaftslehre, Hören und Sehen. Mancher geriet gar in eine Identitätskrise. Auch Herbart fühlte sich von der Macht der Spekulation in einen Abgrund gestoßen: „Unter mir wich aller Grund und Boden, betäubt lag ich da.“(2) Was ihn so irritierte, war der Verlust der gewohnten Sicht auf die Realität des Alltags, insbesondere der Verlust des phänomenalen, erlebbaren Reichtums der Welt. Herbart gewann seine Identität dadurch zurück, daß er die Wissenschaftslehre kritisierte, indem er Fichte selbst kritisierte. Die Philosophie Fichtes nicht in ihrer Objektivität, sondern als Produkt eines philosophierenden Individuums zu nehmen – darin deutet sich eine Kluft zur klassischen deutschen Philosophie an. Für Herbart hatte die Philosophie ihre Funktion zunächst für das philosophierende Subjekt selbst. Er nahm daher Fichtes Philosophie sogleich ethisch. In Verkennung der auf Gesellschaftsveränderung zielenden revolutionären Tendenz interpretierte Herbart das Fichtesche: Das Ich setzt sich selbst! rein individualistisch als ethische Maxime zur individuellen Selbstvervollkommnung.

Herbart zielte auf die Bildung des Individuums, verzichtete somit auf eine Ideologie, die vom Standpunkt des Citoyens aus der Umgestaltung der Umstände Priorität gegenüber der Besserung der Menschen einräumte. Den Anspruch der Vernunft als einzelner festzuhalten war hier erkauft mit der Absage an die Vernunft in der Geschichte. Herbart „betrachtete das politische Geschehen in erster Linie als eine unwillkommene Störung seines  Erziehungsanliegens und bekannte, daß man für das ,Fortschreiten der Sitten‘ mehr von Sorgfalt in der Erziehung als von ,großen Staatsreformen‘ oder ,Revolutionen‘ erhoffen dürfte.“ (3) Selbstbeherrschung also als Voraussetzung der Weltbeherrschung: ,,Ehe man auf andere wirken wollte, sollte man die eigenen Kräfte entwickeln.“ (4) Und: „Wir müssen uns neu erzeugen durch unseren Entschluß. Wir müssen uns machen – es muß jeder sich setzen, nicht wie er sich findet, sondern wie er sich fordert.“ (5) Allerdings findet jeder sich auch vor. Diese Voraussetzungen des Individuums sind es, die Natur des Individuums und ihre vorläufige Ausbildung, die Herbart als Pädagogen seiner selbst und der anderen interessierten.

 

Selbsterkenntnis als Selbstvervollkommnung

 

Damit steckte Herbart aber in einer Falle. Künftig bewegt er sich ausschließlich zwischen drei Punkten: Erstens ist da die Kluft zwischen dem IST – Zustand des Individuums (seiner Unvollkommenheit) und dem SOLL – Zustand (der Vollkommenheit). Zweitens ist da das Sollen selbst, der Imperativ zur Selbstvervollkommnung. Und drittens ist da die Frage nach dem konkreten Zustand meines unvollkommenen Ichs, nach den Voraussetzungen also, auf denen zu bauen ist. Eine Falle ist dies deshalb, weil die Selbstvervollkommnung identisch wird mit der Selbsterkenntnis. Erkenntnismittel und Erkenntniszweck lassen sich nicht voneinander unterscheiden. Traditionell war die Psychologie das Mittel der Selbsterkenntnis. So auch bei Herbart. Das Dreieck, in dem er sich bewegte, kann nun präzisiert werden.

Erstens ist da die Kluft für ihn zwischen der Erfahrung, d.h. dem, was einem unmittelbar in den Vorstellungen und Begriffen gegeben ist (IST) und der Erkenntnis dessen, was einem da gegeben ist (SOLL). Zweitens das Sollen, d.h. das Erkennen selbst. Und drittens wiederum die Erfahrung, aber nun als Aufgabe, als herbeizuschaffender Vorrat an psychischen Tatsachen. Deutlich wird, daß Psychologie durch nichts begründet ist als durch ihr Sollen. Psychologie ist nicht etwa gesellschaftlich notwendig, ein historisches Phänomen – nein, Psychologie soll sein, und also ist sie. Eine weitere Präzisierung ergibt sich aus der Vorstellung zweier Welten bei Herbart. Einmal ist da die phänomenale Welt, die Welt der Erscheinungen. Sie ist uns unmittelbar in den Vorstellungen oder Begriffen gegeben. Diese Welt ist widersprüchlich. Es soll aber kein Widerspruch sein: „Der heterogene Zwiespalt soll nicht sein.“ (6) Zum anderen ist da die hinter dieser phänomenalen, widersprüchlichen Welt liegende widerspruchsfreie Welt, erinnernd an das Kantsche Ding an sich. Im Grunde aber ist das hier bei Herbart eine Wendung im eleatischen Stil: Bewegung ist ihm nicht denkbar, wohl aber faktisch, d.h. empirisch in den Begriffen gegeben. Bewegung, Veränderung  sind zwar erfahrbar, haben aber keine Wahrheit, weil sie, gedacht, widersprüchlich sind und das Denken, Erkennen, d.h. Wissenschaft, den Widerspruch nicht denken kann.

Diese widerspruchsfreie Welt ist nun aber auch geordnet, regelmäßig und nicht ohne Bewegung. Die Ordnung ist eine mathematische, die Regeln sind die der Mathematik, und die Bewegungen sind solche mathematischer Größen und Relationen. Das entsprach ganz dem Herbartschen Bedürfnis nach Harmonie einerseits und seinem Credo: Nichts Neues unter der Sonne!

Herbarts ganze Psychologie wurde nun von ihm in der Absicht entworfen, Bürger zweier Welten zu sein. Das geschieht auf folgende Weise: Zunächst ist es Aufgabe der Empirischen Psychologie, einen Vorrat an Tatsachen, d.h. Vorstellungen und Begriffen, mittels Beobachtung, vor allem Selbstbeobachtung, zusammenzutragen. Im weiteren hat die Psychologie die Frage zu beantworten nach der Genese der Formen der Erfahrung. Darunter versteht Herbart Complexionen, Raum, Zeit und das Ich. Das sind aber schon metaphysische Prinzipien oder Begriffe, zu denen die Erfahrung selbst per Abstraktion nicht gelangt.

Wie ist das zu verstehen? Herbart nimmt einen einfachen psychischen Mechanismus an, aus dem, als Naturprozeß, die Vorstellungen hervorgehen. Die hier wirkenden Gesetze sind Naturgesetze, so das der Hemmung zweier Vorstellungen. Aber das Denken kommt nicht von sich aus, nach den psychischen Gesetzen, dazu, sich über die Erfahrung zu erheben, sich selbst zu erkennen. Metaphysik ist kein Produkt des psychischen Mechanismus – das wäre die einfache evolutionistische Vorstellung eines Beneke, wonach schließlich Psychologie die einzige Wissenschaft, ja Erkenntnisform wäre, wie dieser behauptete. Nein, nach Herbart bedarf der Einsatz der Philosophie eines Aktes der Freiheit, der Selbstbestimmung zur Metaphysik. Das Subjekt setzt sich über die Erfahrung hinweg, setzt sich als Philosoph. Dieser Prozeß ist kein Verstoß gegen die Naturgesetze des Psychischen, auch er läuft über den psychischen Mechanismus, nur eben nicht spontan.

Wir sehen, Herbart treibt sich immer im und am individuellen Erkenntnisprozeß herum, ja, er kennt keinen anderen. Damit ist ihm die Frage nach der Notwendigkeit von Wissenschaft und Philosophie in der Gesellschaft, der Geschichte, nach der Vernunft, sprich: der  Gesetzmäßigkeit der Geschichte verstellt. Herbart ist immer mit dem Ich befaßt, der Seele, die aus sich heraus die psychischen Phänomene wie die Psychologie gebiert.

Wir sehen in Herbart einen Intellektuellen vor uns, der es sich zur Maxime werden ließ, sich zunächst einmal selbst an die eigene Nase zu fassen, um sich daran aus dem deutschen Sumpf zu ziehen. Er machte rasch die Erfahrung, daß, hat man sich erst einmal bei der eigenen Nase gepackt, es sich im Sumpf ganz gut aushalten läßt. Nicht zu leugnen, daß Herbart den Griff gut beherrschte und, weil es ein pädagogischer und psychologischer war, sich daraus manches Wertvolle für den weiteren Gang der Dinge ergab.

Warum ich gerade auf diesen Aspekt einging, will ich mit einem Aphorismus Herbarts legitimieren, der mich argwöhnen ließ, daß die Tradition – bei allem Fortschritt der Psychologie und Pädagogik – noch nicht ganz gebrochen ist: „Geist des Widerspruchs. Wird abgewöhnt. Man sagt dem Schüler und Zögling vor, wie er sich bescheiden ausdrücken solle. Nötigenfalls kurze Regierungsstrafe. Zuweilen gründliche Belehrung; besonders scharfe Untersuchung und Nachweisung von Tatsachen. Etwas für gewiß behaupten, was man nicht weiß, kann als Lüge streng getadelt werden.“ (7)

Literatur

(1) Rek, Klaus: Die Jenaer Gesellschaft der freien Männer 1794-1799. In: Wiss. Z. Karl-Marx-Univ. Leipzig, Ges.- u. Sprachwiss. R. 32 (1983) 6, S. 578

(2) zit. nach: Asmus, Walter, J.F. Herbart. Eine pädagogische Biographie. Bd. I, Heidelberg 1968, S. 104

(3) Hoffmann, F. In: J.F. Herbart: Ausgewählte Schriften zur Pädagogik, Einleitung. Berlin 1976, S. 16

(4) zit. nach: Asmus, W., a. a. O., S. 82

(5) ebenda, S. 172

(6) ebenda

(7) J.F. Herbart, Ausg. Schriften zur Pädagogik, a. a. O. S.423


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