(Veröffentlicht in: Auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Identität. Herausgg. Von Axel Knoblich, Antonio Peter, Erik Natter. Köln 1993, S. 101 – 112)
In diesem Beitrag wollen wir versuchen zu erklären, welche bislang nicht hinreichend gewürdigte Bedeutung der Prozeß des Übergangs aus der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland für den Identitätswandel der Ostdeutschen hatte. Dieser Prozeß des Übergangs wird von uns als eine sogenannte Statuspassage , also ein massenhaft zu beobachtender Überrgang von einem zu einem anderen Lebensabschnitt, beschrieben. Äußerliche, formale Merkmale wie auch Inhalte dieser Statuspassage werden analysiert.
Im Ergebnis wird das Phänomen der Verjugendlichung der Gesellschaft der fünf neuen Länder (FNL) klarer erkennbar, ein Phänomen, welches den soziokulturellen Hintergrund bildet für manche der Unschärfen, die das Bild der Ostdeutschen heute für sie selbst wie für ihre Mitbürger im In- und Ausland bestimmt.
Wie kam man eigentlich aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland? Die Antwort hängt davon ab, auf welchen Zeitraum man sich bezieht. Vor der Öffnung der Grenze 1989 gab es für RentnerInnen gute, für die meisten der DDR-Bürger keine Chancen, für eine nicht unbeträchtliche Minderheit kamen Dienst- oder Besuchsreisen in Betracht. Manch eine(r) bekam das bekannte One- Way- Ticket. Einige wurden gegen ihren Willen auf die Reise geschickt. Die Aufzählung ist nicht vollständig.
Versteht man die Frage als auf die Zeit nach der Grenzöffnung und dem dann folgenden Anschluß, muß die Antwort lauten: Die im arbeitsfähigen Alter befindlichen Neu- Bundesbürger kamen durch eine Verjüngungskur in ihre neue Heimat.
Bevor wir aber auf diesen merkwürdigen Jungbrunnen der fünf neuen Länder eingehen, wollen wir beschreiben, wie wir auf dieses Phänomen gestoßen sind.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung in Berlin stellte sich und uns die Frage: Was wissen wir eigentlich über die Jugend in der DDR der achtziger Jahre? Von der Antwort versprach man sich einige Aufklärung über aktuelle Vorgänge um, mit und in Jugendlichen der FNL. Das war, auch für uns, zunächst eine plausible Frage. Wie war das denn damals in der DDR, und welche Wirkungen gehen von diesem Damals bis heute aus? Noch genauer gefragt: Wenn wir an Probleme und Chancen von (künftig) Auszubildenden aus den neuen Bundesländern denken, welche Aussagen über aus DDR-Zeiten herrührende Startbedingungen in die erste wichtige Statuspassage, den Übergang von der Schule in berufsbildende Maßnahmen, lassen sich als von bisheriger Forschung bereits festgestellte benennen? Welchen Einfluß wird etwa die bisherige typisch ostdeutsche Formierung weiblicher Lebenspläne und -entwürfe, in denen frühe Heirat und Elternschaft eigenständige Werte waren, auf die Planung der beruflichen Laufbahn noch haben? Wie werden sich die spezifisch ostdeutschen Formen des Berufswahlverhaltens unter veränderten Bedingungen, einem neuen Berufsbildungssystem, auswirken?
Und doch ergab sich rasch, daß dies die falsche Art zu fragen war. Ja, es zeigte sich, daß das Wissen über die DDR-Jugendlichen heute als ganz entwertet gelten muß. Dafür gibt es zwei unseres Erachtens gewichtige Gründe. Der erste Grund fand sich darin, daß wir es bei den vorliegenden Daten mit solchen über eine (Um-)Welt zu tun haben, die nicht mehr existiert: die DDR. Es gibt sie nicht mehr, die DDR-Familien, die DDR-Berufsberatung, die damaligen Berufsschulen oder Berufsbilder. Als zweiten Grund wollen wir anführen, daß wir es nicht nur mit Daten über eine vergangene Umwelt zu tun haben. Vielmehr bleibt zu konstatieren, daß auch die Personen, über welche bisherige Forschungen der DDR-Wissenschaftler vorliegen, in dem beschriebenen Zustand nicht mehr existieren. Es gibt keine FDJler mehr, keine EOS- oder POS-SchülerInnen. Die, welche sich auf diese oder jene Art und Weise zur DDR oder NVA positionierten, sind es nicht mehr, welche uns auf den Straßen vom Chemnitz oder Leipzig begegnen. Die uns hier begegnen sind Menschen, die eine längere Vergangenheit in der DDR, eine kurze Geschichte in der BRD hinter sich haben und die heute in einem komplex-instabilen Bedingungsgefüge »Gegenwart« leben.
Und genau diese» kurze Geschichte«, dieser von uns so genannte Statuswechsel vom DDR-Bürger zum Bundesbürger, interessierte uns immer mehr. Denn: Derartige (unterschiedlich lange zurückliegende) Statuspassagen entscheiden – denken wir bloß an die Übergänge von der Schule in die Berufsausbildung oder von der Ausbildung in das Arbeitsleben – über den Verlauf unserer gegenwärtigen Lebensprozesse. Wenn zwischen dem Gestern (der DDR) und dem Heute (der BRD) eine Phase des Übergangs zu bewältigen war, so behaupten wir, entschied gerade die Art und Weise, wie diese Phase ge- und erlebt wurde, über die Chancen, eine neue, eine bundesdeutsche Identität zu finden.
Vielleicht sind an dieser Stelle zwei Bemerkungen zu dem Zusammenhang von Identität und Lebensphasen angebracht.
1. Wir wollen hier unter Identität das psychische Resümee eines Menschen verstehen, welches er aus den biographischen Erfahrungen einer abzuschließenden Periode seines Lebens zu ziehen vermag. Dieses Resümee ist unmöglich ohne Kommunikation, ohne Bezugnahme auf Erfahrungen anderer, Angehöriger seiner Familie und seiner Generation, der von Freunden und Bekannten. Die Periode des Übergangs aus der DDR in die BRD war notwendig so eine Phase des Resümierens.
2. Identität muß sich nicht im Sinne des Gelungenen einstellen. Das Resümee kann scheitern. Was bleibt, ist ein zutiefst beunruhigendes Gefühl. Ein Gefühl, nicht fertig zu sein mit dem hinter einem liegenden Abschnitt seiner Geschichte. Ein solches Resümee hat seine Zeit, ohne Muße ist es kaum zu erreichen. Die Ostdeutschen haben 1989und auch 1990 nicht sehr viel Zeit und wenig Muße gehabt, ihr Leben m der DDR zu begreifen, herauszufinden, wie sie eigentlich gelebt haben. Der Wandel ergriff sie trotzdem, die Gegenwart nimmt auf derartige Nöte keine Rücksicht. Von dieser Zeit ohne Muße und dem Wandel, der die Menschen ergriff in dieser Zeit zwischen zwei Welten, handelt dieser Beitrag.
Der Alltagsverstand ist für solche Prozesse blind: Unser Denken ist weithin bruchlos. Personen und Situationen beurteilen wir aus der Erfahrung mit Vergleichbarem heraus. Und wir schreiben diese unsere Vorgehensweise auch anderen zu, erwarten daß sie ebenso auf ihre Erfahrungen bauen wie wir selbst. Dies funktioniert im Alltag fabelhaft, solange keine Brüche in der Biographie, keine Katastrophen m unserer Umweh eintreten, solange der heutige Tag dem gestrigen gleicht.
Der Sozialisationsforschung ging es ähnlich unserem Alltagsverstand, und so hatten auch die Jugendforschung der DDR und die der Bundesrepublik Deutschland bis zur »Wende« mindestens dies gemein: Sie waren weder theoretisch noch methodologisch auf die »Wende« vorbereitet. Die Möglichkeit derartiger sozialer »Katastrophen « (i. S. der völligen Zerstörung eines sozialen Systems) sah wohl keines der gängigen Sozialisationsmodelle vor. Gleiches dürfte unseres Erachtens auch für eher entwicklungs-, familien- oder pädagogisch-psychologisch orientierte Richtungen gelten.
Wohl war man – die bundesdeutsche Forschung mehr und eher als die der DDR – auf die Tatsachen des sozialen, speziell des wirtschaftlichen und politischen, aber auch des kulturellen Wandels und entsprechender Effekte innerhalb von Jugend eingerichtet.
Theoretische Debatten über Postmaterialismus und Postmoderne, über Individualisierungsschübe, Veränderungen der Arbeitswelt etc. trugen dazu ebenso bei wie sich weniger hoch aufschwingende nüchterne empirische Kärrnerarbeit der Jugendforscher aller Couleur. Daß aber solcher Wandel i. S. der Ablösung eines Gesellschaftssystems durch ein anderes unmittelbar als biographischer Bruch geschehen und auch so erlebt werden kann, das konnte bis dato weder ernsthaft gedacht noch gemessen werden.
Kein Vorwurf soll das sein: Der Vorgang ist außergewöhnlicher als alle anderen der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Wir legen an dieser Stelle auch nur aus dem Grunde Wert auf solch eine Feststellung, weil diese Tatsache ernsthaftes Nachdenken darüber provozieren sollte, ob der historische Umbruch in Deutschland nicht auch zu einer neuen Betrachtung von Lebensläufen führen muß. Eine Betrachtungsweise, die mit der Möglichkeit des Zusammenbruchs von sozialen Systemen rechnet und der Notwendigkeit, in neu sich formierenden sozialen Umwelten zu überleben, eine neue Identität zu gewinnen.
Eine Möglichkeit, dieser Forderung zu genügen, besteht in der Thematisierung des Wechsels vom DDR- zum Bundesbürger als einer Statuspassage. Wir wollen sie gerade deshalb, weil sie nicht »vorgesehen« war, als eine nichtnormative Statuspassage bezeichnen. Diese soll nun etwas näher beschrieben werden. Nochmals: Was ist mit dieser Passage gemeint? Statuspassagen sind Entwicklungsabschnitte im Jugendalter, die wesentlich sozial determiniert, wenngleich auch nicht allein sozial bedingt sind.
Wir wollen uns der hier zu beschreibenden Passage einmal ihrer Form, den äußeren Merkmalen, und zum anderen ihren Inhalten nach nähern. Unsere These lautet präzisiert und gleichsam philosophisch formuliert: Ihrer Form nach ist diese nichtnormative Statuspassage einzig, erstmalig, universell und total.
Einzig im Vergleich zu anderen Statuspassagen ist sie wegen der Anforderung der Anpassung an neu entstandene äußere Umstände. Das heißt: Die Menschen in den FNL traten nicht einfach in andere Umstände ein, die anderen Umstände traten für sie ein. Es macht einen Unterschied, ob z. B. ein Jugendlicher aus der Schule heraus und in die Berufsbildungsmaßnahmen hineinkommt, wobei die Schule wie die Berufsbildungsmaßnahmen vorher und hinterher existieren, oder ob die Verhaltensräume, an die es sich anzupassen gilt, im Moment dieser Anforderung just erst entstehen, wobei sich diejenigen Verhaltensräume, von denen es sich zu lösen gilt, im Moment selbst auflösen.
Erstmalig ist diese Statuspassage für die Jugendlichen in dem Sinne, daß hier im Gegensatz zu jenen anderen Statuspassagen, die sich aus dieser Tatsache der Entwicklung der Individuen ergeben, nun eine Statuspassage notwendig wurde, die sich aus der Entwicklung, genauer dem Zerfall einer Gesellschaft, ergab.
Vergleichbares geschah 1945 anderen Generationen.
Wir meinen, es gibt guten Grund, heute diesen Vergleich zu denken und auch davon zu sprechen. Denn die subjektiven Spuren dieser Umbrüche des je eigenen Lebens verwischen sich immer mehr. Es sind aber diese subjektiven Spuren, das Erinnerte und Erinnerbare, die einzigen Spuren, die wir haben. Werden diese Erinnerungen nicht an die nächsten Generationen weitergegeben, tragen diese ewig und schwer daran. Wir haben dies in beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg leidvoll erfahren. Die Wiener Psychologin Nadine Hauer hat eindrucksvoll nachgewiesen, welche Konsequenzen die Verwischung von Erinnerungsspuren wie der des eigenen Mitläufertums, ja auch die Privatisierung derselben für die ganze Gesellschaft Osterreichs hatte und hat.[1] Ein gesellschaftliches Tabu hat Konsequenzen, formt bestimmte familiale Kommunikationsstile und bestimmt kommunizierte bzw. nichtkommunizierte Inhalte auf Jahrzehnte.
Erstmalig ist diese Passage auch deshalb zu nennen, weil so der Offenheit von Geschichte Rechnung getragen wird. Es muß, heißt dies, nicht die letzte derartige Passage für uns gewesen sein. Üblicherweise werden Statuspassagen nur einmal durchlaufen. Wir haben in der Regel eine Schulzeit hinter uns, eine Lehre oder ein Studium etc. Geschichte hält sich, so haben wir erfahren, nicht an unsere selbstaufgestellten Regeln vom gewöhnlichen Gang der Dinge. Eine solche Erfahrung ist nicht zu verachten, die festhält, daß einmal alles anders kommen kann. Genau diese Erfahrung teilen heute Ost- und Westdeutsche eben nicht. Das Gefühl des Triumphs der eigenen Gesellschaftsordnung, der eigenen Lebensordnung, verleiht automatisch beiden einen. Hauch von Ewigkeit, Beständigkeit und Sicherheit. Bevorzugt wird dann eine Haltung des Verzichts, Alternativen überhaupt in Erwägung zu ziehen, eingenommen. Das Gefühl des Scheiterns des Systems und der eigenen Lebensentwürfe auf der anderen Seite vermittelt nebenbei eben die nützliche Einsicht in die Vergänglichkeit des vermeintlich Wohlgefügten.
Von der Universalität unserer Statuspassage wollen wir deshalb sprechen, weil sie eine Statuspassage für alle Teile der (ostdeutschen) Gesellschaft ist. Sie betrifft weder bloß einzelne Personen noch bestimmte Gruppen oder Schichten. Das ist ein bedeutender Unterschied zu sonstigen Statuspassagen, deren Wirkungen oft nicht über die jeweiligen sozialen Bezugsgruppen hinausreichen. Etwa wenn ein Altersjahrgang schulpflichtig wird oder wahlberechtigt oder das Rentenalter erreicht. Das hat dann für einen Teil der Gesellschaft jeweils Konsequenzen, für den Rest nicht.
Also: Im Falle unserer nichtnormativen Statuspassage wechselt nicht etwa nur ein Teil der Gesellschaft seinen Status und berührt damit andere Teile der Gesellschaft, alle tun dies gleichermaßen.
Spätestens an diesem Punkt sollte bemerkt werden, daß die Darstellung nicht auf die Statuspassage von ostdeutschen Jugendlichen beschränkt sein kann, sondern die Ostdeutschen generell betrifft.
Unter der Totalität der Statuspassage soll von uns die Tatsache verstanden werden, daß von ihr das Ganze von (ostdeutscher) Gesellschaft betroffen ist. Das ist wohl bei anderen Statuspassagen definitiv nicht der Fall. Zwar ist auch ein massenhaft sich vollziehender Übergang wie der Schuleintritt als ein gesellschaftliches Problem zu betrachten und zu meistern. Frühes Schulversagen ist schließlich ebenso wenig wie das Scheitern des Übergangs vom dualen Berufsbildungssystem ins Erwerbsleben ein nur individuelles oder gar privates Problem. Deshalb befassen sich der Staat und die Gesellschaft auf bestimmte Weise mit diesen Übergängen und tragen Sorge für ihr Gelingen.
Betroffenheit des Ganzen meint hier also nicht bloß Betroffenheit von irgendwelchen, vielleicht auch wichtigen Wirkungen.
Betroffenheit heißt: Die Passage ist der Wandel des Ganzen selbst – zu einem guten Teil wenigstens. Die Transformationen in den neuen Bundesländern sind in diesem Sinne eben total.
Soweit zur Form der Passage. Ihrem Inhalt nach läßt sie sich unseres Erachtens am besten durch die Markierung zweier Prozesse beschreiben: Den ersten Prozeß wollen wir den der Verjugendlichung der Gesellschaft, den zweiten den des äußeren Abhängigwerdens der Gesellschaft nennen.
Zum ersten Prozeß, dem der Verjugendlichung der Gesellschaft: Wenn es von uns richtig bemerkt worden ist, daß sich eine ganze Bevölkerung im Wandel befindet, o. g. Statuspassage durchgemacht hat bzw. durchmacht, dann kann es nicht überraschen, wenn die einzelnen Gruppen der Bevölkerung (wobei uns die arbeitenden Erwachsenen besonders wichtig sind) eine Anzahl von Merkmalen aufweisen, die traditionell der Jugend attribuiert werden. Identitätskrisen, Berufswahl, Einstieg in Berufsbildungsmaßnahmen, aber auch die Ablösung vom bisher funktionalen Familienmodell mit gewohnten Geschlechterrollen, neue Gesellschaftsformen von »peers« i. S. von »Gleichbetroffenen« (etwa von Kurzarbeitern), kurz: all jene nicht vom Alter her fixierten Merkmale von Jugend werden deshalb von anderen übernommen, weil sie wie die »originär« Jugendlichen vor einer »neuen« Personalisierungs- und einer »neuen« Statusphase stehen.
Der Unterschied zum Jugendkult der alten Bundesländer ist deutlich zu erkennen: Es geht eben nicht um ewige Jugend, Gesundheit, Schönheit, Leistungskraft etc., wie es uns die Werbung beständig vorspiegelt. Nicht allein die attraktiven Einzelmerkmale des Jugendlichen – also das Ideal der Jugend – werden übernommen. Was wir heute in den FNL bemerken, ist weniger Kult der Jugend – den gibt es auch – als die subjektive Realisierung einer Lebenslage, worin sich viele Erwachsener als den Jugendlichen objektiv gleichgestellt erfahren.
Daß dieser Vorgang gravierende Folgen haben muß für den Verlauf von Jugend, wird schon an dem Punkt klar, der den traditionellen Generationskonflikt berührt. Etwas überspitzt gesagt: Die Erwachsenen fallen weithin für ihre angestammten Rollen als Vorbilderfür die Jugend einerseits und als diejenigen, gegen die zu opponieren, von denen sich zu lösen ist, aus. Anpassung an wen? Widerstand gegen wen? Man steht nicht mehr Brust an Brust, sondern faktisch eher Schulter an Schulter.
Das Generationsproblem verliert somit an Konturen. Was das etwa für die politische Sozialisation der Jugendlichen heißt, ist gar nicht abzusehen. Oder doch? An wem werden sich die Jugendlichen politisch reiben? Fallen die traditionellen sozialen Bezugsgruppen, also Personen, aus, werden abstraktere Akteure herhalten müssen. Die Politiker. Die Parteien. Die Medien. Der Staat. Und Ersatz wird gesucht. Personen und Gruppen. Nach Maßgabe des erfahrenen Verlustes, der Defizite. Welche Gruppen bieten rasche Aufnahme und Anerkennung? Kein Wunder, daß auch im Osten Deutschlands Kulte und Sekten, aber auch politische »Führer« sich wachsenden Zulaufs erfreuen. Fremde, Ausländer, Minderheiten geraten so ins Fadenkreuz Jugendlicher.
Das ist die beschriebene Entwicklung von ihrer Negativseite. Denn: Gestatten sich (zwangsläufig) breite soziale Kreise der Erwachsenen eine neue Jugendphase, so hat das die Kehrseite, daß die originäre Jugendphase sozial marginalisiert wird. Was ist denn Besonderes an jugendlicher Berufswahl, wenn alle auf der Suche sind? Und was ist Jugendarbeitslosigkeit, wenn die zweistelligen Arbeitslosenquoten bleiben? Bildung als Jugendproblem verblaßt, wenn ein Volk in Bildungsfirmen steckt. Lebensentwurf, Perspektivgewinnung sind längst kein Privileg Jugendlicher mehr.
Diese Marginalisierung der Jugendphase heißt aber auch: Jugend als Problem der Gesellschaft, Gesellschaft als Problem der Jugend, beides wird abgewertet, ohne daß der Ernst der Problemlagen sich abschwächen würde.
Die wahrnehmbare Verantwortung der Gesellschaft für die Jugend in den FNL nimmt in dem Maße ab, in dem die Verjugendlichung der Gesellschaft in den neuen Bundesländern, die ja wesentlich eine Gesellschaft der Erwachsenen, der Arbeitenden ist, zunimmt. In dieser verjugendlichten Gesellschaft sind viel mehr »draußen«, in der typischen Vor-der-Tür-der- Erwachsenenwelt- Position der Jugend, als in den nicht verjugendlichten alten Bundesländern.
Nun zum zweiten Prozeß, dem des äußeren Abhängigwerdens der ostdeutschen Gesellschaft.
Hängt das Gelingen der Statuspassage für viele ehemalige DDR-Bürger von der gesamten gesellschaftlichen, speziell der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern ab und ist die Lage in den FNL wiederum von der konjunkturellen Entwicklung in ganz Deutschland abhängig, so führt das zur weitverbreiteten sozialen Konstruktion von den »jungen« Bundesländern.
Zu beachten ist also erstens der Zusammenhang zwischen den nichtnormativen Statuspassagen aller BürgerInnen der FNL und dem ganzen (sozialen, politischen und ökonomischen) Transformationsprozeß in den FNL. Zweitens sind beide Prozesse in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung in Deutschland zu sehen. Wir haben es folglich mit jugendlichen Erwachsenen und Jugendlichen Ländern zu tun.
Wenn in protestantisch anmutender Terminologie von einem »Tal der Tränen« gesprochen wird, durch das man hindurch müsse oder von dem bald blühenden (sprich: erwachsenen) Land jenseits der Elbe, von dessen Jungfräulichkeit, gepaart mit jugendlichem Gründerzeitelan, aus das Unglaublichste zu erwarten sei, so wird die abstrakte Kunstfigur »Jugend« zum Orientierungsmuster, zum Angebot nicht nur für Jugendliche gemacht. Derartige Orientierungsmuster in ihrer effektiven Bedeutung für das Erleben und Verhalten von größeren Gruppen von Menschen abzuschätzen ist immer schwierig. In diesem Fall steht aber fest daß über die veröffentlichte Meinung ganz massiv Weltsicht formuliert wird. Es gab und gibt eine große Not an Orientierung. Um so williger werden Deutungsmuster, die das Leben, die neue soziale Welt verstehbarer machen, angenommen. Solche Deutungs- und Orientierungsmuster sind hier gemeint, wenn von der sozialen Konstruktion der »jungen Länder« die Rede ist. Sie gehören zum Kernbestand von neuer ostdeutscher Identität und trennen wiederum von denen, die in »alten Ländern« Deutschlands leben. Aber sie verbinden auch mit diesen, weil sie Abhängigkeiten konstituieren:
Mit äußerem Abhängigwerden meinen wir eben nicht nur die Genesis des Bildes der jungen Länder, sondern auch den darauf aufbauenden Prozeß der Konstruktion des Autoritäts- bzw. Elternersatzes für diese jugendlichen Länder:
Es ist die Konjunktur der alten Bundsländer, von der die jungen Länder sich abhängig wähnen bzw. wissen. Um die also muß man sich kümmern. Das Wohl der alten Länder wird zur Zielgröße eigenen Handelns. So wird Anpassung wieder möglich.
Das heißt, die Konstruktion der »Jungen Länder« wird massenhaft zum Orientierungsmuster für den einzelnen als jungem Menschen. Die Sorge ums Ganze steht vor der Sorge um die eigene Lage. So schließt sich der Kreis: Der Preis für die Verheißung, die Hoffnung ist Gehorsam, Ordnung, Fleiß: »Solange du deine Beine unter meinen Tisch steckst … !«
Dabei wird der verordnete Habitus des Jugendlichen auch schon deshalb problematisch, weil er mehr und mehr mit dem Alter der verjugendlichten Personen in Kollision gerät. Das wird freilich auch so erlebt. Der alte Spruch »Nicht für die Schule, fürs Leben!« jedenfalls wird von den über 50jährigen Umschülerlnnen nur mit Skepsis akzeptiert.
Abgesehen von der letztgenannten Problematik wollen wir doch behaupten: Es bildete sich weithin in Ostdeutschland ein Bewusstsein einer Übergangszeit, die ihre eigenen Regeln der Daseinsbewältigung hat, in der sich für mehr als nur die (im traditionellen Sinne) Jugendlichen ein neuer, teilautonomer Lebenszusammenhang herstellt, heraus. Ich bin nicht frei, ich lerne, frei zu sein. Ich bin kein Demokrat, werde aber einer. Ich bin nicht arbeitslos, sondern lerne sie kennen, die Arbeitslosigkeit.
Wiederum wird deutlich, was wir oben bereits bemerkt hatten: Nicht das Ideal der ewigen Jugend ist hier gemeint. Jugend sind die neuen BundesbürgerInnen nur, solange die FNL junge Länder sind. 0hne die Erwartung der nach der Jugend kommenden Zelt der Reife macht der beschriebene Prozeß der Verjugendlichung keinen Sinn.
Unter anderem sollten sich Auswirkungen dieser sozialen Konstruktion gerade bei ostdeutschen Jugendlichen in der Ausprägung von Strategien sozialen Lernens nachweisen lassen. Was die Lebensplanung, Berufswahl, Einstellungen zu Leistung, Arbeit und Beruf generell, aber auch zu Bildung und Weiterbildung angeht, dürfte den Jugendlichen wohl nichts anderes übrigbleiben als ein Vorbild-Lernen eigener Art: Vorbilder sind die, welche Erfolg haben in der Jetztzeit. Karrieren beginnen mit der Wende. Was vorher war, gilt nichts. Der jugendliche Ostdeutsche, sei er nun jung oder alt – an ihm werden sich die wirklichen Jugendlichen orientieren, mit ihm werden sie sich auseinandersetzen müssen in dieser nichtnormativen Statuspassage.
Wir nehmen weiter an, daß die Maßstäbe, an denen die Jugend der FNL sich orientiert, erst in der Passage hinein in die Bundesrepublik Deutschland entstehen. Und: die Repräsentanten dieser Werte und Normen auch. Es sind die Erfolgreichen, Ostdeutsche zumal. Also ist kein West- Import von Werten, auch von politischen Werten, anzunehmen oder gar anzustreben, Die neuen Wertekosmen werden hier und heute in den neuen Ländern entstehen. Alle Ideen von Reedukation sind müßig. Das weiß man aber schon seit der vergleichbarer Ambitionen. Was ja nicht heißt, daß nicht am Ende Ähnliches an Werten und politischen, sozialen usw. Grundmustern herauszukommen pflegt.
Insofern ist unsere Darstellung des Wandels der ostdeutschen Identität, die ja zunächst mit der Hervorhebung von Verjugendlichung und Abhängigwerden die Differenz zur westdeutschen Identität betont, ein Plädoyer, bei aller westöstlichen Gleichmacherei die Differenz nicht zu unterdrücken. Die unterschiedlichen Vergangenheiten bleiben. Erfahrungen gleichen sich nicht an. Wir sind auf unterschiedlichen Wegen in dieses Land gekommen.
Konsequenzen oder: Wie gehen wir mit all diesen »Jugendlichen« der FNL heute um?
Wenn es richtig ist, daß wir es bei den »Jugendlichen« der fünf neuen Bundesländer und Ost-Berlins nicht mehr mit DDR-Jugendlichen zu tun haben, ja, nicht einmal mehr mit »richtig jungen« Jugendlichen, sondern mit jungen und älteren BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland, und wenn deren Spezifik (a) in einer langen Vergangenheit in der DDR, (b) in einer kurzen Geschichte in der Bundesrepublik und (c) in einem komplex instabilen Bedingungsgefüge »Gegenwart« liegt, dann müssen heutige und künftige Umgangsweisen mit diesen unseren MitbürgerInnen schon im Ansatz alle drei Spezifika berücksichtigen. Wir meinen, daß Defizite vor allem den Umgang mit der kurzen Geschichte der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, also die von uns so genannte nichtnormative Statuspassage betreffen.
Die Begriffe für die Beschreibung einer Jugend unter stabilen äußeren Bedingungen greifen für diese Population ebenso wenig wie die der Erwachsenen für die Erwachsenenpopulation. Das ist klar. Darum liegt unserer Vorstellung einer Kultur des Umgangs der Bürger der alten und der jungen Bundesländer miteinander generell die Akzeptanz dieser Schwierigkeit, eine neue Identität zu gewinnen, zugrunde. Das heißt für uns konkret, daß stets auf drei sich überlagernden biographischen Ebenen mit und über die Ostdeutschen, Jugendliche und Verjugendlichte, gesprochen werden müßte:
Einmal müßte dies geschehen über die in der Zeit seit der» Wende« 1989 sich vollzogenen Wandlungen und Erfahrungen der Menschen bezüglich der zu besprechenden Sachverhalte (etwa dem Verhältnis zu Gleichaltrigen oder den Eltern, das Verhältnis zu Arbeit und Leistung, Partnerschaft).
Dann kann das Gespräch zu dem jeweilig aktuellen Stand bezüglich der Sachverhalte geführt werden.
Schließlich kommt die Perspektive, die antizipierten bzw. erwarteten Wandlungen bezüglich der Sachverhalte ins Gespräch hinein. Zusammengefaßt: Retrospektive und Prospektive müßten u. E. die jeweiligen Gespräche zur Gegenwart, dem Alltag der Menschen begleiten. Es ist, dies ist auch unsere eigene Erfahrung, ganz aussichtslos, ein Gespräch, welches nur das Gestern (die DDR) und das Heute (die BRD) kennt, zu führen. Aus den Reiseberichten vom Gestern ins Heute erfahren wir – Gereiste wie Daheimgebliebene den Wandel ostdeutscher Identität.
[1] Hauer, Nadine (1993): Das Tabu, die Mitläufer und die Demokratie (im Druck)