(Veröffentlicht in: Philosophie und Wissenschaften Heft 26/1985, Herausgeber: K.-F. Wessel, H.-D. Urbig, Humboldt-Universität zu Berlin, S. 68 – 72)
Wilhelm Wundt selbst befand, sein Lebenslauf sei ein “Gewebe von Irrtümern”[1], immerhin zeigt sich darin eine bemerkenswerte Konsequenz im Verfolgen einmal gesetzter Ziele. Und ob des Erfolgs bietet Wundt’s Biographie einen ausgezeichneten Anlaß zu untersuchen, wie sich individuelle Entwicklungspotenz in wirkliche Wissenschaftsentwicklung umsetzt. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn stieß Wundt gerade durch seine Arbeit auf Hindernisse, die seine Karriere und damit seine weitere Arbeit behinderten. Merkwürdig ist, er hat diese Hindernisse selbst geschaffen durch seine Hartnäckigkeit im Verfolgen seines wissenschaftlichen Ziels. Er hat sich seine Schranken selbst gesetzt. Seine wissenschaftliche Potenz zeigte sich nun darin, daß er diese Schranken überwand. Er überwand sie, nicht, indem er sich einfach veränderte, auf ein anderes Thema auswich, sondern indem er seinen wissenschaftlichen Gegenstand erweiterte. Er betrachtete den lebendigen Organismus nicht mehr nur als Träger physischer, sondern auch psychischer Prozesse. Diese Gegenstandserweiterung gelang ihm, indem er die Mittel seiner Arbeit weiterentwickelte, neue Wege ging.
Die starke Bestimmtheit Wundt’s als Physiologe hinderte ihn, leicht das Terrain zu wechseln, seine Arbeitskraft ließ ihn nicht nur Hindernisse errichten, sondern sie auch überwinden. Was gezeigt werden soll ist, er wurde Psychologe, weil er Physiologe bleiben wollte.
Am Studiengang Wundt’s ist wenig bemerkenswert. Daß er die medizinische Fakultät wählte, lag bei dem prominenten Onkel, Friedrich Arnold, Anatom in Tübingen, nahe. Auch waren um 1850 (Wundt begann sein Studium 1851) die Strukturen der medizinischen Fakultät in starken Wandlungen begriffen, wovon hier speziell die rasche Entwicklung der Physiologie genannt sein soll. Also ließ auch dies auf Karriere hoffen, denn es entstanden neue Lehrstühle und Laboratorien.
Wundt studierte ein Jahr in Tübingen, interessierte sich sehr für Hirnanatomie. Zum praktischen Arzt hatte er wenig Neigung, so beschloß er, das zu werden, wovon er bis dato am meisten verstand, er wählte die Physiologie zum Lebensberuf. Von 1852 bis zum Staatsexamen 1855 studierte Wundt in Heidelberg. Seine Studien dienten hier der Schaffung einer soliden naturwissenschaftlichen Basis. Chemie bei Bunsen, Physik bei Jolly, Mathematik privat. Natürlich die üblichen klinischen Fächer, die er mit der besten Bewertung
abschloß. Er nutzte jede Gelegenheit, sich im Experimentieren zu üben, seine erste wissenschaftliche Arbeit basierte auf Selbstexperimenten mit Kochsalz, seine erste Preisschrift war die Lösung einer experimentellen Aufgabe.
1856 mußte Wundt dann doch Arzt werden, immerhin konnte er wählen zwischen
Badearzt und einer interessanten Assistenz bei Ewald Hasse in der Frauenabteilung der Heidelberger Klinik. Er hatte hier die Chance, Untersuchungen an Patienten mit Lähmungen der Haut und der Muskeln bezüglich der Lokalisation der Empfindungen anzustellen. Diese Versuche standen in der Tradition der Arbeiten von E. H. Weber über die anatomischen Grundlagen der Tastempfindungen. Wundt promovierte 1856 mit “Untersuchungen über das Verhalten der Nerven in entzündeten und degenerierten Organen”.
Bei Hasse kam Wundt zum ersten mal ernsthaft auf das Problem, daß die Untersuchung der anatomischen Grundlagen der Empfindungen, der Empfindungen selbst, ins Spannungsgebiet zwischen Physiologie und Psychologie führte. Ihm erschien erstmals hier ein Gegensatz. Und Wundt entschied sich für die Psychologie. Das bedeutete, er akzeptierte ihren Anspruch auf dieses Problem. Es bedeutete nicht, daß er es der Psychologie überließ. Die Folge dieser ganz ohne äußeren Druck gefällten Entscheidung war, daß er die vorliegende Psychologie zu studieren begann. Lotze, Fortlage, George, Volkmann.
Mit dem Abschluß der pathologisch-anatomischen Studien war Wundt für die Physiologie frei, aber schon fixiert auf Muskel- und Sinnesphysiologie. Und noch 1856 deutete sich die erste wissenschaftliche Krisis an. Wundt war für ein Semester nach Berlin an das Institut von Joh. Müller gegangen. Bei ihm begann er mit nervenphysiologischen Experimenten, die aber ohne Ergebnis blieben. Außerdem arbeitete er bei E. du Bois-Reymond über Phänomene der
Muskelkontraktion, eine Streitfrage zwischen Ed. Weber und A. W. Volkmann. Ergebnis war ein erstes Buch: “Die Lehre von der Muskelbewegung”, 1858. Dieses Buch hatte die überraschendsten Folgen für Wundt. Es fand zu Wundt’s größter Überraschung keinerlei Resonanz, seine ihm doch freundlich gesonnenen Lehrer schwiegen sich aus. Merkwürdigerweise fand Wundt beim Schreiben der Autobiographie, daß er, trotz des guten Gedächtnisses, dieses Buch inhaltlich fast vergessen hatte. Er las es wieder und fand es immer noch gut, es enthielt, so Wundt, den Grundgedanken einer Elektrophysiologie der Zukunft.[2] Bei dieser schönen Verdrängungsleistung verwundert es nicht, daß die Wundtschen Erklärungen des Mißerfolgs nicht stichhaltig sind. Er hat bis an sein Ende nicht Klarheit gewinnen können über den Frevel, den er an seiner Physiologie geübt hatte.
Bei den Experimenten der Muskelkontraktion standen die Forscher damals vor dem experimentell-praktischen Problem, daß der Muskel, vom Körper isoliert, schnell der Veränderung, Erstarrung unterlag. Das behinderte die Experimente erheblich. Wundt erwies sich als ein geschickter Experimentator. Er legte den Muskel zwar frei, beließ ihn aber im Kreislauf des Körpers. Was hier zunächst nichts weiter als ein geschickter Trick des Experimentators aussah, erwies sich aber als die Voraussetzungen der modernen Physiologie, wie sie Helmholtz, Brücke, Ludwig und E. du Bois-Reymond vertraten, aufhebend.
Helmholtz formulierte das Credo dieser modernen Physiologie: “Brücke und ich verpflichteten uns durch einen feierlichen Eid, folgender Wahrheit zur Geltung zu verhelfen: In den Organismen sind keine anderen Kräfte wirksam als die bekannten der Physik und Chemie. In jenen Fällen, die zur Zeit nicht durch diese erklärt werden können, muß man entweder die spezifische Art und Weise ihrer Wirkung durch Anwendung physikalisch-mathematischer Methoden herausfinden oder neue Kräfte annehmen, die den chemisch-physikalischen Kräften, welche der Materie innewohnen, im Rang gleichgestellt sind und auf die Kräfte der Anziehung oder Abstoßung zurückgeführt werden können.”[3]
War also das Ziel hier die theoretische und praktische Auflösung des lebenden Organismus in elementare Vorgänge physikalisch-chemischer Art, bestand die Physiologie in der Zurückführung auf Physik und Chemie (Reduktion), so praktizierte Wundt genau das Gegenprogramm. Er löste den Organismus nicht auf, er setzte ihn voraus und reproduzierte ihn, erhielt ihn. Er wandte die richtigen physikalisch-chemischen Methoden an, aber nicht am vom Organismus getrennten Einzelprozeß, sondern am vom Organismus unterschiedenen
Einzelprozeß. Er hatte diesen im Falle des Muskels erfolgreich isoliert, indem er die Bedingungen desselben reproduzierte, erhielt und kontrollierte. Mit der so praktizierten These von der Nichtreduzierbarkeit der organischen Prozesse auf anorganische Prozesse entschied Wundt ohne es zu formulieren ein wichtiges philosophisches Problem. Er behauptete die Eigenständigkeit des Lebens, der organischen Bewegungsform der Materie und seiner Gesetze. Er war eben konsequent Physiologe. Wenn dem so war, dann mußte es auch elementare Lebensprozesse geben, die zwar physikalisch-chemisch analysiert werden konnten, aber selbst ihrem Wesen nach nicht physikalisch-chemischer Natur waren. Damit stellte Wundt sich unbewußt gegen das Programm der neuen Physiologie. Das Resultat seines Aufenthaltes in Berlin war, daß er einerseits als Sinnesphysiologe bei Müller gescheitert war, andererseits bei du Bois-Reymond als Muskelphysiologe erledigt war. Er konnte sich nicht als Spezialist in der Physiologie etablieren.
1857 habilitierte sich Wundt in Heidelberg an der medizinischen Fakultät und begann Lehrveranstaltungen über das gesamte Gebiet der Physiologie. An dieser Aufgabe scheiterte er wiederum, seine Konstitution hielt diese enorme Belastung nicht aus. Seine Ärzte hatten ihn aufgegeben, doch er genas. Dies war seine zweite wissenschaftliche Krisis. Hatte Wundt’s Berliner Versuch, sich als Spezialist in der Physiologie zu etablieren zu dem genannten Ergebnis geführt, so war er, wenn auch nicht aus wissenschaftlichen Gründen, nun an der Aufgabe gescheitert, sich als universeller Physiologe zu etablieren.
1858 kam Helmholtz nach Heidelberg. Wundt wurde sein Assistent. Die dritte und vielleicht entscheidende Krisis war damit vorprogrammiert. Denn Helmholtz arbeitete ja gerade auf Wundt’s Spezialgebieten, der Sinnes- und Muskelphysiologie. Ganz abgesehen davon, daß bei dem systematischen Geist Wundt’s und der Komplexität der Aufgabe der ganze Mann gefordert war, Wundt jedoch als Assistent eine erhebliche Arbeit im Nebensächlichen zu leisten verpflichtet war, kam hier nun endgültig die gegensätzliche Auffassung der beiden Physiologen zum Ausdruck: “Helmholtz hat es klar ausgesprochen, die Tendenz seiner Arbeiten, namentlich der zuerst unternommenen zur physiologischen Optik, sei neben der physiologischen Untersuchung des Sehprozesses insbesondere auch dies gewesen, die Theorie der Sinneswahrnehmung aus der Beschäftigung der Psychologen in eine Aufgabe der Naturwissenschaften umzuwandeln. Mir schwebte von Anfang an die Sinneswahrnehmung als ein psychologisches Problem vor Augen, und dieses Problem erweiterte sich bald zu einer die gesamte Psychologie umfassenden Aufgabe.”[4] Das schrieb Wundt lange Zeit später, als Psychologe. Damals war ihm klar, daß das Problem der Sinneswahrnehmungen, der Empfindungen, was ja lange als eines der medizinischen Psychologie in der Medizin behandelt wurde, mit dem neuen Programm der Physiologie von Helmholtz nicht zu lösen war. Diese Wendung zur Psychologie aber war unter den Heidelberger Bedingungen nicht realisierbar. Der Gegenstand des Streits, der wissenschaftliche Gegenstand, war vom Ordinarius belegt. Wollte Wundt seine Arbeiten als Physiologe fortführen, so mußte er hier erkennen und akzeptieren, daß in dieser Physiologie endgültig kein Platz für ihn war.
Schwebte Wundt eine Stelle als “physiologischer Psychologe” vor, so konnte er es auch in der anderen Fakultät, in der Psychologie vertreten war, in der philosophischen Fakultät versuchen. Seine Heidelberger Aktivitäten auf dem Gebiete der Philosophie, die übrigens nicht erfolglos waren, wie Helmholtz bemerkte[5], fanden aber ein jähes Ende mit der Berufung Eduard Zellers nach Heidelberg. Zeller war und blieb noch lange Zeit der prominenteste Vertreter der Philosophie im Streit gegen eine naturwissenschaftliche Richtung der Psychologie. In Heidelberg wurden Männer vom Schlage eines Kirchhoff oder Bunsen wie “Apotheker” behandelt, die nicht würdig seien, in den Angelegenheiten der Humanisten teilzuhaben.[6] Wundt hatte hier mit seinen Vorstellungen keine Chance. 1862 erschienen die beiden Programmschriften “Abhandlungen zur Theorie der Sinneswahrnehmung” und “Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele”. Wenn Wundt später darüber als von seinen
“Jugendsünden” sprach[7], so bezeugt dies das wohl nicht sehr ermutigende Echo auf sein “Riesenoeuvre” (Graumann). Es ist eine der vielen Merkwürdigkeiten in Wundt’s Autobiographie, daß er Drobisch’s Rezension der Bücher als streng, aber wohlwollend beschreibt.[8] Denn die Rezension war ein glatter Verriß, der ihm Anmaßung, Unkenntnis der kritisierten Theorien, Unexaktheit im Experiment und überdies noch Materialismus vorwarf.[9]
1864 aber erhielt Wundt das Extraordinariat für Anthropologie und medizinische
Psychologie in Heidelberg und damit eine gewisse Selbständigkeit. Die nächsten zehn Jahre produzierte er Lehrbücher (des Geldes wegen), trieb breite Studien auf den Gebieten, die für die Völker- und Individualpsychologie wichtig waren, und – er trieb sich in der Politik herum. Letzteres führte dann zur Berufung auf F. A. Lange’s philosophischen Lehrstuhl nach Zürich 1874. 1875 kam er nach Leipzig, sein eben erschienenes Hauptwerk, die “Grundzüge” im Gepäck.
Die größte Arbeit dieses Heidelberger Jahrzehnts aber bestand darin, sein “Heidelberger Programm” der Psychologie auf das von einer Ein-Mann-Institution Machbare herabzuarbeiten.[10] Und die harten akademischen Jahre hatten ihn clever genug gemacht, den ihm in Leipzig gebotenen Platz in der Philosophie voll zu nutzen. Er zog sich und seiner Zeitung den Mantel der Philosophie an, ohne seine Fahne in den Wind der “Spekulation” zu hängen.
Seine Schule trug dann auch diesen engen Charakter einer Ein-Mann-Institution, sein Programm der “Grundzüge” wurde ausgewickelt, erreichte aber nicht annähernd die Dimensionen des Heidelberger Programms. Dieses war inhaltlich wohl realisierbar, fand aber keinen institutionellen Rahmen. So mußte es dadurch, daß die einzelnen Momente desselben in selbständigen Wissenschaften erarbeitet wurden, sich außerhalb der Wundtschen Psychologie durchsetzen und Wundt mußte erleben, wie schon seine erste Schülergeneration ihm programmatisch abtrünnig wurde.
[1] WUNDT, W.: Brief an Sophie Mau vom 27. Mai 1872.Zitiert nach: Meischner, W., Eschler, E.: Wilhelm Wundt. Jena und Berlin 1979, S.42
[2] WUNDT, W.: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1920, S.147
[3] Zitiert nach: WERTHEIMER, M.: Kurze Geschichte der Psychologie. München 1971, S.69
[4] WUNDT, W.: Erlebtes etc., S. 161
Was schon das Problem, Physiologie auf Physik zu reduzieren betraf, führte Wundt dann auch für das Verhältnis Psychologie-Physiologie durch. Nicht darin bestand die Aufgabe, die komplexen psychischen Prozesse auf physiologische herabzubringen, sondern die elementaren psychischen Vorgänge aufzufinden und zu analysieren, ohne die Psychologie aufzugeben.
[5] HELMHOLTZ, H.: Brief an Adolf Fick vom 16.10.1872. Zitiert nach: Meischner/Eschler: W. Wundt, S.58
[6] ASH, G.: Die experimentelle Psychologie in Deutschland vor 1914: Aspekte eines akademischen Identitätsproblems: In: Wilhelm Wundt, Protokoll des int. Symposiums Leipzig 1979.S.262
[7] WUNDT, W.: Erlebtes etc., S. 206
[8] Ebenda.
[9] DROBISCH, M.: Ober den neuesten Versuch, die Psychologie naturwissenschaftlich zu begründen. Zeitschrift für exakte Philosophie IV, 1863
[10] Vgl. dazu die Studie von Graumann, C. F.: Wundt vor Leipzig – Entwürfe einer Psychologie; in: Wundt, W.: Protokoll etc., S.63ff