Kommentar zum Dresdener SPD-Parteitag
Eines war den Genossen um Sigmar Gabriel vor dem Dresdner Parteitag klar: Wenn es auf diesem Parteitag von Anbeginn an zu einer Auseinandersetzung um die Wahlniederlage kommen würde und zu einer Abrechnung mit den dafür Verantwortlichen, dann würde dieser Parteitag scheitern. Darum musste um jeden Preis verhindert werden, dass der scheidende Vorsitzende Franz Müntefering trotzig den Weg der Partei seit 2003, die Agenda 2010, verteidigt. Und es musste verhindert werden, dass daraufhin, in der großen Aussprache, die Flügel und Strömungen, die regionalen Gliederungen, die Cliquen und Funktionärsklüngel aufeinander losgingen.
Die Disziplinierung Münteferings gelang. Daraufhin nutzten die Delegierten die Gelegenheit, endlich auszusprechen, was sie sich seit Jahren auf der Straße anhören und in der Presse über sich lesen mussten – oder am Stammtisch sich gegenseitig immer wieder bestätigten: Das ganze Elend von Basta und Hartz IV, von Rente mit 67 und Afghanistan, der schmachvolle Umgang mit Andrea Ypsilanti und Kurt Beck, von verlorenem Vertrauen und Mitgliederschwund. Vom Verlust der eigenen Identität und Mitte auf dem Irrweg hin zur sogenannten Neuen Mitte, von sozialer Gerechtigkeit, die die Sache der Partei nicht mehr war.
Der Parteitag zerfiel denn also „kontrolliert“ in zwei Veranstaltungen: Erstens die Aussprache der Delegierten und die Rede und Wahl Sigmar Gabriels und zweitens die Rede Frank-Walter Steinmeiers und die Diskussion zum und die Beschlussfassung des Leitantrags.
Teil eins war eine klassische massenpsychologische Veranstaltung, die Delegierten sprachen aus, was „die Partei“ empfand, nichts Neues freilich, aber reinigend, Katharsis. Sie beschworen 146 Jahre SPD, Godesberg, Wehner und Brandt. Die Sehnsucht nach alter Größe, nach Volkspartei war stark: Hybris. Das alles war ohne Ausweg, eine Klage der eigenen Not und der Glaube an Hoffnung.
Es rettet uns kein höh’res Wesen/ kein Gott, kein Kaiser und Tribun…es musste ein andres höheres Wesen her, die pseudoreligiöse Selbsterhebung der SPD zur erlösenden Kraft, die große Idee – das alles war an diesem Freitag wieder lebendig und nachdem sich die Delegierten als Masse konstituiert hatten trat Siegmar Gabriel, erhöht durch ein Podest, in deren Mitte.
Man sei auf dem falschen Weg, dem Irrweg des Neoliberalismus gewesen, fehlgeleitet von falschen Propheten, BWLern, Journalisten und Politologen. Statt weiterhin fest an die große Idee der Sozialdemokratie zu glauben: Freiheit und Gerechtigkeit, Verantwortung und Solidarität, habe man einem Götzen, der Mitte, gehuldigt, den die neoliberalen Hohepriester errichtet hatten. Man müsse nun wieder den Glauben an die eigene große Idee stärken und daraus zu überzeugenden Lösungen für die großen Probleme der Gesellschaft finden. So, wie es der SPD mit dem Godesberger Programm und mit Brandts Entspannungspolitik doch schon zweimal gelungen war.
Aber was ist dieser neue Gedanke, der die Massen ergreifen, die Hegemonie bringen und also eine sozialdemokratische Mitte konstituieren könnte? Siegmar Gabriel sagt es nicht. Geschlossenheit und Offenheit fordert er zugleich. Ich führe Euch hinaus ins Leben, da draußen, bei den Menschen aller Schichten und Milieus, da wird die Idee zu finden sein. Wenn wir nur die Nervenenden wieder bei den Menschen haben, der direkte, organische Kontakt wieder hergestellt sein wird, dann werden wir die Idee finden.
Fast möchte man ihm helfen und ihm zurufen: Du hast die Idee doch vor Augen, Du redest doch immerzu davon, warum siehst Du sie nicht und sprichst sie nicht aus? Du redest doch von neuer, universeller Teilhabe, willst Umweltverbände und Kirchen, Gewerkschaften und selbst noch den kleinsten Verein zum Gespräch bitten, Unternehmer und Handwerker, Arme und Alleinstehende, Arbeiter und Arbeitslose, Junge und Alte, Frauen und Männer, Gesunde und Kranke, Behinderte und Migranten, die Völker Europas und der dritten Welt einbeziehen in die Lösung der großen Probleme und beteiligen an dem Fortschritt, dem Reichtum.
Er tut es nicht. Statt dessen Übermut, Hybris: Man werde wieder Volkspartei, bald schon würden andre froh sein, wenn sie mit der SPD regieren dürften. Der Masse der Delegierten reicht das, sie akklamieren ihn mit 94 % zu ihrem Parteiführer. Zum Parteivorsitzenden muss er sich erst selbst noch machen.
Im Teil zwei des Parteitages war die Partei wieder Partei und nicht mehr Masse. Der Rausch, befeuert am Parteiabend, war zwar noch nicht verflogen, aber aus der Delegiertenmasse waren wieder die Delegierten der verschiedenen Richtungen und Gliederungen geworden. Der Fraktionsvorsitzende Steinmeier verteidigte nicht mehr die Agenda 2010, aber zog doch eine positive Bilanz sozialdemokratischen Regierens. Ansonsten arbeitete er sich, wie bereits bei seiner Antwort auf die erste Regierungserklärung Kanzlerin Merkels, am schwarzgelben Koalitionsvertrag ab.
Der Leitantrag wollte den Bruch mit der bisherigen Politik nicht, Distanz ja, Relativierungen ja, Korrekturen ja – aber nicht den Schnitt. Entsprechend defizitär fielen Analyse und Neuausrichtung aus, die Wahlanalyse sei erst noch zu leisten, die Gewinnung einer politischen Perspektive eine Zukunftsaufgabe. Korrekturen bei Steuern und Regulierung der Finanzmärkte, bei Rentenalter und Mindestlohn, Afghanistan, Bahnprivatisierung usw. wurden als zu diskutierende Forderungen einer Oppositionspartei SPD artikuliert.
Es wurde vom Führungswechsel gesprochen, aber wenn man bedenkt, dass die Ressourcen der Partei im wesentlichen in deren Bundestagsfraktion konzentriert sind und dass deren Führungspersonal keineswegs so neu ist, dann muss man einschätzen: ein Führungswechsel in der SPD im Sinne des Machtgewinns für Gabriel & Co. steht erst noch bevor.
Nach dem Parteitag kehren die Delegierten wieder heim und die Partei ist noch kein Stück anders geworden. Der Parteiführer Sigmar Gabriel wird sich als Parteivorsitzender beweisen müssen. Er wird dafür Andrea Nahles brauchen. Aber was ist deren gemeinsame Basis?
Die Öffentlichkeit wird der Parteitag wenig beeindruckt haben. Derartige Krönungsmessen und Räusche hat sie in den letzten Jahren genug erlebt. Platzeck, Beck, selbst Müntefering bei seiner Rückkehr erschienen stets triumphal. Noch ist für die SPD nichts gewonnen – außer etwas Zeit. Aber eben nicht sehr viel Zeit, die Wahl in NRW findet bereits im Mai kommenden Jahres statt.