(Veröffentlicht in: Politische Berichte, Zeitschrift für linke Politik Nr. 1 vom 10. Januar 2013, S.18/19)
Vorbemerkung: Ich beschreibe hier Tendenzen!
These 1: Die Linke konnte zu Bundestagswahlen deutlich über ihre Kernwählerschaft hinaus mobilisieren, als es wirklich große Verteilungskonflikte um Ressourcen gab. Das war zur Wahl 2005 der Fall. Prägnantesten Ausdruck fand der Konflikt im Unwort „Hartz IV“, es drohte ein Verlust an Ressourcen für viele. Zur Bundestagswahl 2009 ging es einerseits um Verluste bei Renten, das Stichwort war „Rente mit 67“. Andererseits antizipierten die Menschen Gewinne durch eine gute Konjunktur 2010. Im Herbst 2009 waren die Konjunkturerwartungen so hoch wie seit zehn Jahren nicht (Deutschlandtrend Nov. 2009). In diesen Situationen vertrat Die Linke zum einen den Standpunkt sehr vieler Betroffener. Zum andern bot sie sich zur Wahl an, um Druck auf die SPD zu machen.
Einen solchen Verteilungskonflikt haben wir aktuell nicht. Daher entfällt für viele die Notwendigkeit, durch die Wahl der Linken Druck auf die anderen, speziell die SPD, aufzubauen. Hinzu kommt erschwerend, dass die andern Parteien verbal und faktisch daran arbeiten, die größten Härten kleinteilig, also für einzelne Betroffenengruppen, etwas abzumildern. Das bedeutet keineswegs, dass Die Linke zur Bundestagswahl 2013 nur mit dem „harten Kern“ ihrer Wählerschaft rechnen darf. Eine darüber hinaus gehende Wählermobilisierung sollte möglich sein. Dazu gilt es die aktuelle Konfliktlage um die soziale Gerechtigkeit abzubilden. Aber wenn es nicht der akut drohende Verlust von Anrechten und Ansprüchen oder der angemessene Anteil an einem frisch gebackenen Konjunkturkuchen ist – was ist es dann?
These 2: Der aktuelle Verteilungskonflikt, so wie er sich im Massenbewusstsein widerspiegelt, scheint mir einer um das „rechte Maß“ der Verteilung des Reichtums zu sein. Das betrifft einmal die generelle Verteilung innerhalb der Gesellschaft. Es ist immer ein „Zuviel“ bei den einen, ein „Zuwenig“ bei den andern, das beklagt wird. Dabei geht es nicht nur um die sogen. Armuts- und Reichtumsschere, die sich öffnet. Es geht darum, dass die jeweiligen Korridore, innerhalb derer die Menschen, entsprechend der Leistung oder anderer Kriterien, verschiedenen sozialen Gruppen Anteile, Gehälter, Renten, Sozialleistungen usw. zubilligen, verlassen werden: Dass die da oben so viel bekommen ist nicht in Ordnung. Von so wenig Hartz IV kann man wirklich nicht leben. Für unter 5€ die Stunde Vollzeit arbeiten – das geht nicht usw. usf. Hier ist etwas aus den Fugen. Das ist sozial ungerecht.
Dann aber wird der Konflikt auch als unmittelbar eigener erlebt. Überall werden, die eigenen Einkünfte und Kosten betreffend, Grenzen überschritten, Maßlosigkeiten erlebbar. Wenn die Mieten auf einen bestimmten Anteil am Einkommen steigen. Wenn die Strompreise steigen, ohne dass das durch Einkommenszuwächse ausgeglichen wird. Gas, Wasser dito. Wenn Benzin so teuer wird, dass man sich das notwenige zweite Auto, die Fahrt zur Arbeit, die Wege zur Kita usw. immer schwerer leisten kann. Gesundheitskosten, Pflege, Studiengebühren, Klassenfahrten, Kita usw. usf. Dann sind das Grenzüberschreitungen, Maßlosigkeiten, soziale Ungerechtigkeiten en detail.
These 3: Es geht bei dem aktuellen Verteilungskonflikt aber nicht nur um verlorene Maße, sondern auch um soziale Beziehungen und Verhältnisse der Menschen in Deutschland. Die massenhaften Ansprüche auf sozial gerechte Verteilung des Reichtums ist auf ein diesem Land in der Nachkriegszeit eingeschriebenen Versprechen gegründet. Dieses Versprechen lautet: Wenn sich alle nur recht anstrengen, gut lernen und hart arbeiten und nicht über ihre Verhältnisse leben, dann wird der Wohlstand des Landes wachsen und jede/r hat die Chance, nach eigener Leistung einen Anteil am Reichtum zu erlangen. Und für alle großen Risiken sind alle gut abgesichert. Erlebt wird heute massenhaft, dass dieses Versprechen immer schwerer, für viele überhaupt nicht mehr eingelöst werden kann. Das ist der eigentliche Kern der Erzählung von der sozialen Ungerechtigkeit. Gilt dieses Versprechen nicht mehr, ist der Gesellschaftsvertrag für die Menschen geplatzt. (Das meine ich nicht analytisch, sondern lebensweltlich, auf die Reflexionen der Menschen bezogen).
These 4: Die Linke sollte, das wäre ihre erste Kommunikationslinie, auf die Einhaltung dieses Versprechens bestehen. Die erste Botschaft lautet: Dieses Versprechen wird nicht mehr eingelöst. Wir aber bestehen darauf! Genau darum wären die Verteilungsverhältnisse wieder ins rechte Maß zu setzen. Es wäre zu zeigen, was ein Leichtes wäre, dass andere Parteien, auch Gewerkschaften und andere Interessenverbände, dieses Versprechen nur für Teile der Gesellschaft einzulösen wünschen. Wir bestehen darauf, dass es für alle gilt und heben jene besonders heraus, die aus Erfahrung daran schon nicht mehr glauben. Das geschieht dann zielgruppenspezifisch. Leistung, Aufwärtsentwicklung und Aufstieg bei sozialer Absicherung, so heißt es in der Wahlstrategie unter der Überschrift: Die Linke steht für eine neue soziale Idee. Die neue soziale Idee ist also so neu nicht. Sie aber als eine ungeheuer lebendige Idee zu begreifen, die mobilisierende Kraft, die ihr inne wohnt, zu entfesseln, das ist allemal genug Neuigkeit im politischen Wettbewerb in Deutschland. Wir haben es bei der jüngsten Präsidentschaftswahl in den USA gesehen, dieser Traum „Wir können es schaffen, Du kannst es schaffen!“ ist so mächtig, soviel er sich auch blamiert und in Schaum aufgelöst haben mag in Jahrzehnten. Besonders interessant wird es, wenn Die Linke dabei auch all jene Diskurse und Ideen aufnimmt, die Begriffe wie Wachstum, Wohlstand, Leistung, Arbeit und Sicherheit progressiv neu bestimmen.
Diese Geschichte des Verteilungskonflikts ist aber nur die halbe Wahrheit. Sie gilt zu 100%. Es gibt aber noch eine zweite Geschichte. Die handelt von der Krise. Beide Geschichten stehen nebeneinander, teils verwoben, teils nicht. Ich werde aus heuristischen Gründen, um die Komplexität der Krise zu reduzieren, gelegentlich das Modell einer drohenden Naturkatastrophe, gut in Erinnerung: das Hochwasser 2002, benutzen.
These 5: In Krisen geraten Gesellschaften, Wirtschaften generell, aber eben auch Branchen, einzelne Betriebe usw., unter Druck. Entsprechend verändern sich Interessenlagen. (Dass man einen Interessenkonflikt haben könnte, merkten einige Ortschaften in Brandenburg erst, als sie ihre Lage als von wenigen Höhenmetern Unterschied abhängig erkannten). Es strukturieren und gruppieren sich Interessen um. Durch große Interessenorganisationen (Verbände) in Nichtkrisenzeiten zu Gesamtinteressen aggregierte Partialinteressen kommen stärker zur Geltung. Das betrifft die großen Einzelwirtschaftverbände ebenso wie Einzelgewerkschaften, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber.
Die Folgen: Einmal wollen Partialinteressen einzeln, klientelistisch bedient werden. Das tut die Bundesregierung, die Opposition tut es in Form von Wahlversprechen. Es werden viele einzelne, manchmal sehr kleine Päckchen gepackt. Das ist eine sehr wichtige Frage. Hier haben zweifellos all die Parteien einen Vorteil, die in den Augen der betroffenen Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit politisch zum Zuge kommen werden, nach der Wahl 2013 ihre Versprechen, seien sie auch nur 46 Euro beim Regelsatz Hartz IV. Das zählt.
Zum anderen entstehen neue Gesamtinteressen über bisherige soziale Barrieren hinweg. Es sind vom Grundcharakter her Sicherheitsinteressen:
• Ordnung, Stabilität, Geld und Arbeit werden als bedroht erlebt. Garantien sind gefragt, wirtschafts- und besonders industriepolitische Kompetenz, auch finanzpolitische Kompetenz.
• Soziale Sicherungen werden aufgewertet. Renten, Gesundheit, Wohnung, Energie und Mobilität. Sozialstaatliche Kompetenz ist wichtig.
• Sozialer Zusammenhalt, Zusammenhalt, Soziale Gerechtigkeit sind gefragt. Wertekompetenz und Glaubwürdigkeit.
Die Linke sollte natürlich wie bisher jeweils Partialinteressen ihrer Klientele bedienen, die kleinen, aber so wichtigen Verbesserungen der Lebenssituation vieler, besonders sozial in schlechter Lage sich befindlichen Menschen zu verbessern suchen. Und sie sollte weiterhin mit (1) finanz-, wirtschafts- und industriepolitischen Ideen, (2) sozialstaatlichen Garantien und Reformen und (3) Werten wie Gerechtigkeit, Solidarität, Gemeinschaft offensiv in den Wahlkampf ziehen.
Bis hierhin ist die zweite Geschichte, die von der Krise, noch eng mit der ersten Geschichte vom Fortschritt und besserem Leben verwoben. Der Kern wird erst erkennbar, wenn man versteht, wie sich Gesellschaft und Politik in der Krise (um)formieren.
These 6: Die Sicherheitsinteressen übergreifen weite Teile der Gesellschaft, betreffen mehr Menschen als in Nichtkrisenzeiten. Sie formieren eine neue, breite „Mitte“. Die neue „Mitte“ ist eine Notgemeinschaft im Angesicht der drohenden Krise. Man rückt zusammen, wie es bei dem Jahrhunderthochwasser 2002 in Mitteldeutschland, aber weit darüber hinaus auch geschah. Noch hält der Deich. Und alle arbeiten hart, dass das so bleibt.
Die großen Parteien einschließlich der Grünen reagieren darauf, indem sie diese soziale Konstruktion, um sie kämpfend, verstärken. Sie rücken dabei, bei den Issues, ihren politischen Positionen und Konzepten näher zusammen. Kein Zweifel, dass auch DGB-Chef M. Sommer die große Koalition als die dem Hochwasser angemessene Regierung sah und nun wieder fordert.
These 7: Das wird von der neuen „Mitte“ goutiert. Politische Führung in Krisenzeiten hat, wie beim Hochwasser 2002, eigene Gesetze. Allein die beiden großen Parteien binden aktuell fast 70 % der Wählerschaft, mit den Grünen etwa 85 %. Das ist ein ungewöhnlich starker Anstieg seit der BTW 2009, wo Union und SPD 57 % binden konnten. Die kleinen Parteien sind zurück gefallen unter 10 %. (FGW)
These 8: Die Linke kommt nur dann wieder ins Spiel, d. h. in die Wahl weiterer Wählerschaft, wenn sie glaubwürdig einen Beitrag zur Bewältigung der Krise, d.h. vor allem zum Schutz vor deren Folgen zu leisten gewillt und fähig ist. Das wäre die zweite Kommunikationslinie, deren Botschaft wäre: Die Linke ist bereit und fähig, ihren Beitrag in der Krise zu leisten.
Der Beitrag der Linken zu der gemeinsamen Anstrengung, die Krise zu meistern, wäre gefragt. Nicht der Fingerzeig auf Schuldige, nicht große Reformpläne. Alles zu seiner Zeit. Die Linke kann nicht die neue Mitte, die, hart gegen die Krise anarbeitend und darin in den großen Parteien ihre politische Führung sehend, düpieren. Das ist zunächst anzuerkennen. Sonst wird man des Platzes verwiesen.
Und ein zweiter Gedanke sollte leitend sein. Die Schweizer haben in ihrer politischen Tradition ein Wort, Konklusion, das ihnen wichtig ist. Die Konklusion bedeutet, auf unseren Fall angewandt, bei allem, was in der Krise getan wird, abschließend die Frage zu stellen: Trägt diese Maßnahme zur Stärkung des (sozialen, politische, wirtschaftlichen, kulturellen) Zusammenhalts (in der Region, in Deutschland, in Europa) bei? Darauf sollten dann die Vorschläge der Linken ausgerichtet sein.
These 9: Hier könnten die beiden Kommunikationslinien der Linken wieder zusammen geführt werden. Im Bild des Hochwassers: Der Deich hält, dank der harten Arbeit vieler, auch der gebrachten Opfer. Aber das reicht nicht. Das Wasser sickert durch, unten im Haus haben viele schon länger nasse Füße und es geht ihnen nicht gut. Einige helfen nicht mit, leisten nicht ihren Beitrag. Und so manche Ortschaften vor dem Deich (Europa!) hat man schon eigennützig absaufen lassen.
Die Linke hat eigene Kraft und Ideen, die Krise zu bewältigen zu helfen und das Versprechen des Landes auf wohlverstandenen Wohlstand und Aufstiegschancen für alle seine Einwohner einzulösen. Das wäre die Botschaft. Wir helfen mit, soziale Gerechtigkeit zu schaffen.
Dr. Harald Pätzolt, 12.12.2012