Lernziel Frieden zwischen frühkindlicher Sozialisation und der Substitution militanter sinnhafter Verhaltensweisen im Erwachsenenalter

 

 

Einführungsvortrag der Arbeitsgruppe 5: Den Frieden erlernen, Konflikte meistern: Erziehung zum Frieden“.

 

Konferenz „Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Bedingungen und Folgen einer Entmilitarisierung der DDR“, Berlin, 27. 03.1990.

Veranstaltet vom Wissenschaftlichen Rat für Friedensforschung an der AdW der DDR

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Die historischen Ereignisse der letzten Wochen und Monate in der DDR machen es mir als Betroffenen und aktiv Beteiligten unmöglich, anders als aus diesen meinen Erfahrungen heraus zum heutigen Thema zu sprechen. Nachzufragen, wie Frieden erlernbar sei und Konflikte gemeistert werden können, erscheint auch mir ein wichtiger Auftrag an Psychologie, Pädagogik und andere Sozialwissenschaften zu sein. Schließlich geht es um die Chancen für ein demilitarisiertes Europa. Ebenso wichtig erscheint mir aber die Frage zu stellen, aus welcher Perspektive wir das Problem angehen sollten. Und eben dazu lassen Sie mich bitte einige Bemerkungen machen.

Neues Denken, eine neue Moral und eine neue Psychologie müssen her, so Gorbatschow, soll den Risiken der Selbstvernichtung der Menschheit erfolgreich begegnet werden. Damit sind – in der Sprache der Politik – existentielle Bedingungen für künftiges menschliches Handeln benannt. Und: friedenspsychologisches wie friedenspädagogisches Engagement hat sich bislang auch immer an der Einsicht orientiert, daß, um weiter mit Gorbatschow zu sprechen, Politik heute und künftig nicht mehr den Politikern allein überlassen werden darf.

In dieser Hinsicht war die jüngste Wahl in der DDR eine herbe Enttäuschung. Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger war nur allzu gern und allzu rasch bereit, ihre Angelegenheiten wieder in die Hände von Politikern zu legen.

Und eine zweite, für unser Thema relevante Erfahrung läßt sich aus unserer jüngsten Geschichte vermitteln: die sozialen Umwälzungen waren mitnichten aus der Einsicht in globale Bedrohungen vollzogen worden. Ja, meine Erfahrungen mit Studenten sind derart, daß die globalen Dimensionen aktueller innenpolitischer Weichenstellungen, etwa die Frage nach sozialer Marktwirtschaft und Ausbeutung der 3. Welt, Umweltzerstörung usw., geradezu tabuisiert werden. Ich habe nie zuvor solche inneren Widerstände gegen eine Diskussion dieser Fragen gespürt wie in den letzten Wochen.

Und endlich entlarvte sich die Rede von der Menschheit, die sich selbst vernichten könne und die aber eben auch die Wahl habe, dies nicht zu tun, als eine Fiktion. Die Rebellionen in Osteuropa, das waren Rebellionen des nationalen Selbst, des Selbst verschiedener sozialer Gruppen, letztlich der einzelnen Individuen gegen ihre zunehmenden Gefährdungen und Deformationen.

Praktisch, d.h. im alltäglichen Denken und Handeln, sind die Menschen, die die sogenannte Wende vollzogen haben, entschieden noch keine Weltbürger, noch nicht einmal Europäer, wie uns eine Leipziger Umfrage, wonach sich 52% der DDR-Bürger als Europäer fühlen, weismachen will. Die Erinnerung an das Menschsein, um aus dem Einstein – Russel – Memorandum von 1952 zu zitieren, ist bis heute blaß geblieben.

Diese Fiktion also einer bloßen Möglichkeit der Selbstvernichtung (wo sie doch schon im Gange ist!) und der Freiheit der Wahl durch die Menschheit (wo diese doch gar nicht als politisches Subjekt agieren kann!) sind Teile eines Glaubens privater Art ans Überleben, eines Glaubens, dessen wir uns beständig kollektiv versichern. Also bereits eine Form sozio-psychischer Risikoverarbeitung, wie ich meine.

Die List der Geschichte ist nun, daß die Umwälzungen in Osteuropa, obwohl so gar nicht europäisch oder global motiviert, dennoch die Risiken militärischer Ost – West – Konfrontation erheblich vermindert haben. So ganz enttäuschend ist also die Tatsache für uns nicht, daß die Menschen aus ihren besonderen Interessen heraus, vom Naheliegenden her, Geschichte gemacht haben und nicht aus allgemeinmenschlichen Interessen heraus. Vielmehr scheint hier die Perspektive auf, aus der das Lernziel Frieden und der produktive Umgang mit Konflikten verständlich wird.

Lassen Sie mich diesen Gedanken an einem Bild verdeutlichen. Als Schüler, der sich nebenbei Geld verdiente, wurde ich vor Jahren in einem Berliner Großbetrieb Zeuge eines echten Schildbürgerstreichs. Zwei Maurer zogen in einer Fabrikhalle eine Trennwand hoch. Die nötigen Ziegel lagen auf einem LKW-Anhänger. Es dauerte einige Zeit, bis wir Umstehenden begriffen, was an dem Vorgang so merkwürdig war: in der neuen Wand hatten die beiden Maurer nur eine kleine Tür für Personen gelassen. Der Anhänger mit den Ziegeln aber stand drinnen. Immerhin, die Maurer konnten noch heraus.

Ähnlich schildbürgerhaft scheint mir menschliches Handeln heute bezüglich der globalen Risiken zu sein. Erstens dominiert weithin der Glaube an eine Tür, eine Hintertür. Für Nationen, für soziale Gruppen, für den Einzelnen. Dieser Glaube wird von der Propaganda der Friedensbewegungen häufig unterstützt, wenn darin zwar über ein mögliches Ende der Menschheit, kaum aber mit gleicher Intensität und Häufigkeit über die Gefährdungen der einzelnen Staaten, sozialer Gruppen, des Einzelnen geredet wird.

Zweitens macht, wie für die beiden Maurer das Mauern, menschliches Handeln für die Handelnden durchaus einen Sinn. Wir stoßen hier auf das Problem der Interessengeleitetheit des Handelns und der Wahrnehmung und Abschätzung der produzierten Risiken sowie des Verhaltens zu diesen. Das scheint mir wichtig: Das alltägliche Handeln der Bürgerinnen und Bürger, die in der Wirtschaft und Wissenschaft, der Militärs ebenso, ist mittelfristig durchaus sinnvoll. Es sichert einmal als Erwerbsarbeit die unmittelbare soziale Existenz der Betroffenen. Das gilt für Berufsmilitärs, für die in der Rüstungsindustrie Tätigen und die für Militär Forschenden.

Und dieses Handeln leistet andererseits vielfach einen Beitrag zur Stabilisierung und Entwicklung der jeweiligen Gemeinwesen, Staaten, Regionen. Denken Sie bitte an die enormen Rüstungsexporte aus Europa in andere Regionen der Erde.

In diesem Sinne ist auch das Tun der Politiker, wenn sie solche Interessen untereinander und mit den Interessen des Gemeinwesens vermitteln, von einiger Sinnhaftigkeit.

Um ganz konkret zu werden: als psychologischer Berater konnte ich gerade im Wahlkampf erleben, daß alle Diskussionen um das Konzept der Entmilitarisierung und Neutralisierung Deutschlands, wie es die PDS vertritt, von Armeeangehörigen erst dann angenommen wurden, wenn klar gemacht werden konnte, welche neue sichere soziale Perspektive für eben diese Militärs damit verbunden sein wird.

Damit komme ich zum Schluß noch einmal auf den zu Beginn bewußt unvermittelt stehen gelassenen Gedanken Gorbatschows zurück. Neues Denken, neue Moral und neue Psychologie – sie beginnen nicht dort, wo Globales ins Alltagsbewußtsein der Menschen dringt. Neues in diesem Sinne entsteht, wo sich Menschen ihrer konkreten Lebenslage und –Situation stellen, sich ihrer naheliegenden Interessen bewußt werden, diese artikulieren und durchzusetzen streben.

So borniert diese Interessen auch sein mögen und so wenig sie den allgemein-menschlichen Interessen entsprechen mögen – einen anderen Weg, als sich der Auseinandersetzung, also auch der Politik, zu stellen und sich dabei der Interessendifferenzen zu anderen und der Abhängigkeiten von anderen zu versichern, sehe ich nicht.

Eben weil wir nicht warten können, bis neue Generationen auf Gewaltfreiheit hin sozialisiert sind, muß unter der Klammer „Lernziel Frieden und gewaltfreies Konfliktverhalten“ auch über Formen der Substitution bisherigen sinnhaften, aber eben potentiell gewaltträchtigen Verhaltens individueller und gesellschaftlicher Existenzsicherung (z.B. für Militär, Wissenschaft, Wirtschaft) durch andere sinnhafte Angebote individueller und gesellschaftlicher Existenzsicherung nachgedacht werden. Psychologie und Pädagogik können eben nicht einzig auf frühkindliche Sozialisation hoffen. Lernprozesse sind eben auch für genannte Sustituierungen konstitutiv.

Die psychologische Frage also der Demilitarisierung Europas setzt für mich eben da an, wo von den anstehenden Entscheidungen alltägliche Lebensprozesse Vieler berührt werden. Psychologische und pädagogische Friedensarbeit ist für mich auch akademisches Geschäft, zuerst aber psychologisches und pädagogisches, fragendes und antwortendes Begleiten von Kindern und Jugendlichen und Erwachsenen, von Wirtschaftsleuten, Militärs und Politikern in ihrem Bemühen, aus ihrem Sinnverständnis menschlichen Handelns heraus zu bestehen.

 


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