(Veröffentlicht in: Politische Berichte Nr. 3 am 17. März 2016, S. 5 -7)
Diese kleine Notiz will auf den Zusammenhang zwischen dem Zustand der Parteiensysteme einzelner Bundesländer und den Landtagswahlen in diesen Ländern im Frühjahr aufmerksam machen. Das ist nicht gerade üblich. Gemeinhin betrachtet die Parteiensystemanalyse die Parteiensysteme und die Wahlforschung Wahlsysteme, Wahlrecht sowie das Wählerverhalten.
Ich mache eine politikwissenschaftlich überraschende Annahme: Parteiensysteme sind für mich weder die Gesamtheit der einzelnen Parteien und die Art und Weise ihrer Koexistenz oder, eine andere geläufige Definition, „die einzelnen politischen Parteien, ihre Eigenschaften und das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen“ (wikipedia), sondern der Zusammenhang zwischen Parteien und Elektorat. Anders als der vielleicht noch am weitesten dem Entwicklungsdenken verpflichtete Parteienforscher, Herbert Kitschelt, der für seine Analysen der Entwicklung von Parteiensystemen immerhin individuelle Akteure (citizens, politicians) und kollektive Akteure (parties) voraussetzt1, versuche ich die Evolution des Parteien–Wählerschaften-Verhältnisses zu denken. Dabei hilft die gute alte Cleavage-Theorie, heute fasst man Cleavages als konkrete Ausformungen solcher Verhältnisse, Formationen von Parteien und deren Wählerschaften.2
Baden-Württemberg (BW) und Rheinland-Pfalz (RP):
Instabile Parteiensysteme
Nach den LTW 2011 konnte ich für die Parteiensysteme beider Länder den Beginn eines grundlegenden Wandels3 feststellen. Analytisch machte ich dies an zwei Indikatoren fest, einmal einer hohen Fluktuation der Wählerschaft, ich habe eine Differenz im Ergebnis (mindestens) einer Partei von etwa 10% zur letzten LTW als Kriterium genommen. Zweiter Indikator war eine Formierung der Parteien und der Wählerschaft entlang einer neuen Konfliktlinie in der Gesellschaft (cleavage), nach dem AKW-Unglück in Japan war diese Konfliktlinie für den exorbitanten Wahlerfolg der Grünen verantwortlich.4
Die evolutionären Vorteile der grün-libertären Formation (Regierungsbeteiligungen) versuchte man in RP wie in BW nach 2011 zu nutzen. Das ist in beiden Ländern in unterschiedlichem Maße gelaufen. In RP gelang dies den Grünen weniger gut, nach etwa einem Jahr konnte statistisch betrachtet eine „Regression zum Mittelwert“ beobachtet werden, die Zahl der Anhänger fiel auf ein durchschnittliches Vor-Fukushima-Niveau zurück.5 Das hing damit zusammen, dass sich die grüne Innovation im Parteiensystem verbreitete, entsprechende Variationen bei andern Parteien auftauchten und positiv selektiert wurden. In BW führten die Grünen die Regierung und steuerten gewissermaßen diesen Prozess, trieben selbst damit in die politische Mitte. Den regionalen Konflikt um Stuttgart 21, mit landesweiter Bedeutung, führten sie in einen Kompromiss. Die Grünen rekombinierten geschickt Merkmale von CDU und SPD mit denen der Grünen und waren damit erfolgreich.
Neue Konfliktlinie, neuer politischer Player
Bevor die Parteiensysteme wieder in eine stabile Lage kommen konnten, entstand entlang der sogenannten Flüchtlingsfrage eine neue Konfliktlinie, weil die Anti-Euro-Partei AfD den diffusen Ängsten Vieler, die nach Jahren Erfahrung mit wachsender Ungleichheit und/oder regionalen wie sozialen Abgehängt-Seins, dann durch die Euro- und Europakrise bereits seelisch zermürbt, wenigstens makrosozial schwer gestresst waren, einen kohärenten und organisatorischen Ausdruck verlieh. Einzig die Grünen in BW konnten darauf erfolgreich reagieren, indem sie, besser ihr Repräsentant, MP Kretschmann, die Innovation der AfD, kommunitaristische Werte und Vorstellungen gegen eine universalistisch-libertäre Gesellschaftsidee (ob neoliberal oder linksegalitär) zu setzen, aufnahm und mit eigenen zu kombinieren suchte. SPD und CDU sind in beiden Ländern damit befasst, sich teilweise gegen ihre Bundesparteien auf der neuen Konfliktlinie zu positionieren, wenig erfolgreich bislang. So weichen bisherige Formationen mit ihren Wählerschaften weiter auf.
Beide Parteiensysteme werden sich also in und nach diesen LTW weiter und wiederum in andere Richtung grundlegend wandeln. Hohe Fluktuationen waren anzunehmen und sind eingetreten, erdrutschartige Gewinne der einen, Verluste der anderen schienen möglich und wurden Realität. Der Eintritt neuer Player war zu prognostizieren gewesen, für die AfD sicher, für Die Linke in beiden Ländern und für die FDP in RP erschien dies Wochen vor den Wahlen möglich. Die Linke hat es nicht geschafft.
Schwierige Regierungsbildungen
Für BW konnte man ungewohnte Koalitionen vorhersehen, am Ende des Wahltages sind es zwei geblieben: grünschwarz und die Ampel. In RP wiesen die Umfragen auf Schwarz und Rot, das gab es seit 1947 nicht. Nun ist es Rotschwarz, auch die Ampel ginge.
Parteien
Die SPD in BW, die CDU in beiden Ländern erlitten herbe Verluste, ja historische Tiefstände. Auch wenn die SPD in RP eine Regierungsoption bekommen hat, so ist mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 das Signal für die Bundespartei und deren Vorsitzenden Sigmar Gabriel doch äußerst negativ.
Für die Grünen sieht es in beiden Ländern unterschiedlich aus. In RP sind sie dramatisch abgestürzt und grad eben so über die Fünf-ProzentHürde gekommen, in BW waren sie die triumphalen Gewinner der Wahl. Sie hätten in beiden Ländern eine Regierungsoption. Zur schwarzgrünen Option wie zur Ampel sind kräftige innerparteiliche Diskussionen zu erwarten.
Die AfD hat den Einzug in beide Landtage satt geschafft. Damit würde die Partei, deren Einzug im Herbst in Mecklenburg-Vorpommern sicher scheint, der in Berlin wahrscheinlich, über zehn Fraktionen in Landtagen verfügen – eine gute Ausgangsbasis für den Bundestagswahlkampf 2017. Der Einzug in die Landtage von BW und RP hätte auch innerparteiliche Folgen, beide Landesverbände sind erkennbar weniger völkisch-national unterwegs als die Gauland-Höcke-Truppe; ob ein Richtungskampf oder ein Burgfrieden 2017 zu erwarten ist vermag ich nicht vorherzusagen.
Ein Blick auf Die Linke in beiden Ländern zeigt, dass die Partei aus ihrer Diasporaposition seit Gründung 2007 nicht heraus gekommen ist. Die Mitgliederzahlen stagnieren, verglichen mit ostdeutschen Flächenländern liegt der Schlüssel Mitglied/Einwohner etwa um den Faktor 10 niedriger. Es gibt wenige kommunale Mandate, hier liegt der Schlüssel Mandat/Einwohner um den Faktor 30 (RP) bzw. 50 (BW) niedriger. Dass die Partei 2016 an der Parlamentsschwelle stand, war zwei Sachverhalten geschuldet. Erstens den Entwicklungen im Elektorat, evolutorisch gesprochen ist ja das Elektorat das Subjekt, die Partei das Objekt: Wenn hinreichend viele WählerInnen, volatil geworden durch soziale Erfahrungen, nach einer Partei wie der Linken als Wahlalternative zu anderen Parteien oder zur Nichtwahl suchen, dann werden sie diese auch finden und wählen, also zu ihrem Objekt machen. In absoluten Zahlen war dies auch stärker der Fall als 2011. Zweitens, auch wenn sich die WählerInnen ihre Partei suchen, so muss diese doch auffindbar, präsent und zudem wählbar sein, Objektqualitäten haben. Das traf für Die Linke sowohl in RP wie in BW zu.
Sachsen-Anhalt (ST)
Stabiles Parteiensystem
Sachsen-Anhalts Parteiensystem war ein Drei-Parteien-System, in das immer wieder kleinere Parteien (FDP, Grüne, DVU) ein- und ausgetreten sind. CDU, SPD und Linke (bis 2007: PDS) konnten zusammen stets drei Viertel der Stimmen ziehen. Die Wählerschaft hatte eine lange Erfahrung und Tradition, einerseits einen stabilen Block dreier Parteien zu wählen, andererseits kleinere Parteien auch mal gut zweistellig in den Landtag zu bringen – und sie bei der nächsten Wahl wieder herausfallen zu lassen. Das Elektorat war entwicklungsoffen, mochte Variationen ausprobieren. Bei dieser Wahl nun ist es quasi kollabiert, in einen sehr instabilen Zustand übergegangen.
Neue Konfliktlinie, neuer politischer Player
Was ich für BW und PR konstatierte galt auch für ST, die neue Konfliktlinie, an der sogenannten Flüchtlingsfrage festzumachen und der neue Player AfD bestimmten den Wahlkampf. Die hohe Volatilität in ST kam, anders als in BW und RP, nicht aus einem instabilen Parteiensystem, sondern aus einem stabilen, welches bislang eher temporäre Fluktuationen zeigte. Damit ist es, wie gesagt, nach der Frühjahrswahl 2016 vorbei. Der Fortbestand der Konfliktlinie und der Einzug der AfD in großer Stärke in den Magdeburger Landtag markieren den Beginn eines grundlegenden Wandels des Parteiensystems, mit offenem Ausgang.
Unbekannte Koalitionsoptionen
Seit der Wende gab es immer die schwarzrote Option in ST, auch wenn sie erstmalig im April 2006 gezogen worden ist. Diese „Basisoption“ war am Wahlabend verloren, „Kenia“ oder Neuwahl ist die Alternative heute.
Parteien
Die CDU konnte nicht über der 30%-Marke bleiben, das ist für sie aber kein Problem im Vergleich zum Ergebnis der letzten Landtagswahl (32,5%).
Die SPD ist erstmalig unter die 20%-Marke, schlimmer noch, sie hat gerade noch die 10%-Marke überschritten. Ein Desaster existentieller Art. Mit Blick auf das Festhängen der Bundespartei im Umfragetief einerseits, Ergebnisse in BW, Sachsen und Thüringen auf eben diesem Niveau andererseits, wird das die Parteiführung schwer unter Druck setzen.
Grüne und FDP standen an der Schwelle der 5%, die Grünen haben sie genommen, die FDP nicht. Sie sind es in ST gewohnt.
Die Linke hat sich trotz schwerer Verluste mit 16,3%, als eine stabile Kraft im Parteiensystem in ST behauptet. Ihr Spitzenkandidat Wulf Gallert hat im Wahlkampf durch seine konsequente Werthaltung in der Flüchtlingsfrage seinerseits den libertären, humanistischen Haltungen, Werten und Erwartungen Vieler in dieser Hauptsache einen kohärenten politischen Ausdruck verliehen. Das war wichtig. Gewinnen konnte er unter diesen Umständen nicht.
Fazit
Wir haben nach den Frühjahrswahlen in allen drei Ländern instabile Parteiensysteme, in grundlegendem Wandel befindlich. Die neue Konfliktlinie bezüglich der Flüchtlingsfrage und der neue Player AfD zwingen Elektorat und Parteien zu Neuausrichtungen. Diese Entwicklung dürfte auch die Herbstwahlen und das Wahljahr 2017 bestimmen.
Das Parteiensystem Deutschlands steht vor einer Neuordnung. Auf der zentralen Rechts-Links-Achse gibt es nun neben der Union eine parlamentarisch erfolgreiche Partei. Für die Herbstwahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern bis zur Bundestagswahl 2017 ist ein Fortschritt dieser Entwicklung anzunehmen.
Die drei institutionellen Säulen des „Systems Merkel“, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident, sind nach diesen Frühjahrswahlen nicht einsturzgefährdet. Das könnte sich 2017 ändern, der Baugrund beginnt weich zu werden.
Bei den Parteien wie im Elektorat wird es viel evolutionäres Geschehen geben, Orientierungen, Bewertungen, Selektionen, Rekombinationen, Personalien – viel wird sich ändern. Auch Die Linke wird sich bewegen müssen, will sie nicht bei den nächsten Wahlen schon heftige Wettbewerbsnachteile erleiden.
1 Kitschelt, Herbert: Party Systems. In: The Oxford Handbook of Political Science (Online), S. 3
2 Siehe dazu Kriesi, Hanspeter (2010): Restructuration of Partisans Politics and the Emergence of a New Cleavage Based on Values, West European Politics, 33: 3, 673 – 685
3 Man unterscheidet zwischen temporären Fluktuationen, einem begrenzten und einem grundlegenden Wandel von Parteiensystemen sowie deren Transformation. Niedermayer, Oskar u.a: Die Parteiensysteme Westeuropas, Wiesbaden 2006, S.13 f.
4 https://www.haraldpaetzolt.de/wp-content/uploads/2011/08/londondt.pdf
5 Zu diesem Phänomen empfehle ich: Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2011, S.219ff.
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