Ein „Wir“ und seine Voraussetzungen

Über die politische Wieder-In-Wert-Setzung der Gemeinschaft und des Gemeinschaftsdenkens in Deutschland und in Europa als Herausforderung für die deutschen Linken

(veröffentlicht in: neues-Deutschland.de/20.04.2016)

Als Angela Merkel Anfang September 2015 diesen mittlerweile legendären Satz sprach: „Wir schaffen das!“ wurde ein merkwürdiges Phänomen, der Verlust ihrer Fähigkeit, für die Deutschen zu sprechen, offenbar. Das „Wir“ aus der Hochzeit der Zustimmung für „unsere Kanzlerin“, die „Mutti“, war plötzlich zum Pluralis Majestatis geworden: man hörte: „Ich schaffe das!“.

Erinnern wir uns. Vor und nach der Bundestagswahl 2013, die die Union grandios mit einem Zugewinn von 7,7% auf 41,5% gewann, die Zustimmung zur Kanzlerin war weit, weit höher, verrieten Strategen aus dem Konrad-Adenauer-Haus aller Welt das Geheimnis des Erfolgs: Die Union sprach alle und jede/n an, das politische Angebot galt ohne Ausnahme. Keine Zielgruppen, keine Klientele. Keine Mitte, sondern ein einziges großes WIR. Das muss man erst einmal hinkriegen.

Es war ein nationales Wir, freilich. Uns hier, so hieß es, geht es doch noch gut, ja besser als andern in Europa. Und Angela Merkel hält in der Krise unser Geld zusammen. Richtig, mochte man damals schon sagen, das eine hängt mit dem andern ja zusammen. Die Deutschen als Beutegemeinschaft.

Dieses „Wir“ hatte spezielle Voraussetzungen. Es basierte einmal auf einer funktionierenden Gesellschaft[1], also auf Recht und auf Geld und einer breiten Teilhabe vieler Personen an diesen Gütern, sowie einer soliden Exportwirtschaft, einem funktionierenden Welthandel. Es war aber auch ein, wenn man so will, neoliberales nationales Wir, ein Wir von flexiblen, entbundenen Individuen, deren Gemeinschaften der herrschenden Politik zur Privatsache herabgesunken waren. Familie, Herkunft, Tradition, Religion, Verein, Region, Dorf, Betrieb, Berufsstand usw. interessierten politisch nicht (mehr). Das beschreibt ganz gut den Prozess der Modernisierung der CDU unter Merkels Führung.[2]

Warum nun verlor Angela Merkel diese Wir-Kompetenz so plötzlich? Nun, sie stellte die letzte verbliebene, auch politisch suggerierte, Gemeinschaft, die nationale, in dem Augenblick infrage, in welchem sie deren Grenzen aufhob und massenhaft unkontrollierten Zuzug Fremder zuließ, ja geradezu dazu einlud. Nationale Gemeinschaften, was immer man davon halten mag, bedeuten Abgrenzung, kein „Wir“ ohne ein „Die anderen“. Und die anderen sollen als solche unterscheidbar sein. Wie sollte man, wenn die Fremden unter uns sind, sich denn sonst abgrenzen können?

Einem Teil der Leute hier war schon zu viel, ohne eigene Währung leben zu müssen. Der € statt der D-Mark. Erst ist unser Geld futsch, dann wird auch noch unser Recht vom EU-Recht gebrochen. Die da oben sollten nicht mehr Wir sagen, denn „Wir sind das Volk!“, so rief man es in Dresden.

Findige politische Unternehmer von Pegida und auch von der AfD spürten diese Wir-Schwäche der Regierenden und generierten ihr eigenes Wir. Es versammelten sich unter deren Hüten alle, denen es in der Gesellschaft und in der Politik an Respekt für Gemeinschaftswerte, bestehende Gemeinschaften, Traditionen, mangelte. Der Prozess der zunehmender Geringschätzung für Zusammenhalt, für Formen, in denen man unteilbares Teil, eben Individuum ist, nicht Einzelner;  fürs Regionale, fürs Neo-Völkische, fürs Christlich-Fundamentalistische in Süddeutschland oder eben auch fürs Neu-Heidnische[3], für Vereine und Familien, für Belegschaften und Berufsstände, Regionen und Kommunen oder Kieze, er ist Jahrzehnte im Gange. Irgendwann aber ist der Punkt erreicht, wo die Respektlosigkeit gegenseitig wird und sich alle depravierten Wir tendenziell zu einem Wir, zu einem Björn-Höcke- oder Frauke-Petry-Wir werden können. Der Punkt war im September 2015 mit dem Zusammenbruch des Grenzregimes erreicht. Man muss den Aufwuchs der AfD bei den jüngsten Wahlen als einen Ausdruck kommunitaristischer Protestation begreifen.

Es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen nicht die AfD wählte oder Pegida hinterherläuft. Bei den Frühlingswahlen 2016 gewannen jeweils die Amtsinhaber. Neben der Tendenz der Bewegung hin zur AfD gab es eben auch jene, die ich mit dem Titel „Rally Round the Flag“ markiert habe.[4] Zu diesem Geschehen gehörte, dass weit mehr Menschen die Amtsinhaber als Repräsentanten „ihrer“ Gemeinschaft von Landeskindern wertschätzten als es das Wahlergebnis aussagt.

Beide Tendenzen richten unser Augenmerk auf das Potential von Parteien, deren Programmatik und Personal, Gemeinschaften anzusprechen, ein Wir zu generieren und zu repräsentieren. Das sind natürlich dynamische Prozesse sozialer Konstruktion, keine Gemeinschaft, kein Wir ist einfach so gegeben. Die Frage aber ist immer die nach der Fähigkeit, mit den vielen Wir zu sprechen, von ihnen und mit ihnen. Sie pflegen eigene Sprachen und haben eigene Identitäten. Erfolgreich sind jene Politiker*innen, die Respekt signalisieren, sich einlassen, ja in gewisser Weise hingeben.

 

Man kann diese Tendenz der Protestation gegen anhaltende Depravation von Gemeinschaften und zur politischen Wieder-In-Wert-Setzung des Gemeinschaftlichen in ganz Europa verfolgen. Als nationalistische Reaktionen gegen die EU, gegen Deutschland, rechts eingefärbt in Polen oder Ungarn, aber auch links in Griechenland, Spanien oder Portugal. Die anhaltenden Sezessionsbestrebungen, Schottland, Katalonien seien genannt, können in diesem Kontext betrachtet werden. Neue solidarische Formen der Produktion, Genossenschaften, lokale und regionale Versorgungsnetze für elementare Daseinsvorsorge wären zu nennen. Auch temporäre Formen der Gemeinschaftsbildung in Bewegungen und Protestmassen – die Formen des WIR sind vielfältig und zahlreich und sie lassen sich politisch im ganzen Spektrum, von rechts bis links, abbilden. WIR – das ist zugleich ein Proxy für kollektive Identitäten aller Art, regionale, religiöse, ethnische, interessenspezifische usw.

 

Sie haben allesamt miteinander gemein, dass es mehr als nur Interessengemeinschaften sind. Sie teilen jeweils kulturelle bzw. ideologische Orientierungen, die in Wertesystemen gründen und prägen, temporär oder dauerhaft, bestimmte eigene Verhaltensmuster aus, wozu auch Symboliken und Sprachen, also eigene kommunikative Codes, gehören.[5]

 

Wo und wenn sich politische Unternehmer dieser Gemeinschaften annehmen oder Führerfiguren aus ihnen heraus wachsen, dann spricht man rasch von Populismus. Da hilft mir eine Definition, die da lautet: Populismus ist die Nutzung des kommunikativen Codes von Gruppen, ohne es mit diesen Gruppen ernst zu meinen. Populismus ist immer ein Modus der Instrumentalisierung.

 

Rechts wirkt. Das ist die Erfahrung vieler Menschen in den letzten zwei, drei Jahren. Nein, es ist eben nicht so, dass man ohnmächtig ist gegenüber „denen da oben“, in Berlin oder Brüssel. Das linke Griechenland wurde und wird fertig gemacht, Podemos, Portugal, da ist nicht viel, was sie gegen IWF, Merkel & Co. setzen können. Links wirkt heute nicht. Aber mit Polen, Ungarn, da kann Merkel nix machen. Die Niederländer sagen „NEE!“. Die Briten probieren den Brexit. Die AfD wird gewählt, gegen das ganze Establishment samt Medien. Ja, da geht doch was auf der Rechten! Sie haben das Momentum.

Manchen Linken in Deutschland sind all diese Gemeinschaftsformen irgendwie suspekt, sie sind auf bornierte Interessen gerichtet und zielen nicht aufs Weltganze ab. Genossenschaften – langweilig, kein Thema. Commons – auch nur für die Dritte Welt interessant. Proteste, Massen – zu unpolitisch, kaum zu steuern, aber man sollte dabei sein. Regionales – Heimatgeschwiemel, Herkünfte, Traditionen, Familie – na ja!

Dafür sehnt sich die Linke nach imaginären Mehrheiten, das wären Gemeinschaften so recht nach ihrem Geschmack! So versucht man sich an vergeblichen sozialen Konstruktionen solcher Gemeinschaften, etwa der „Prekären“. Symptomatisch, dass man den eigenen kommunikativen Code, linkes Politikvokabular, den Leuten aufdrücken will. Wer prominent in der Partei DIE LINKE es wagt, vorhandene, leider politisch inkorrekte Codes zu nutzen darf mit Sanktionen rechnen. Stattdessen sollte sich DIE LINKE wieder zu einem respektvollen Umgang mit all diesem durchringen, wie es die PDS gegenüber den „Ostdeutschen“, die WASG gegenüber der Arbeiterschaft tat, einige Landesverbände gegenüber „ihren“ Landeskindern tun – freilich jeweils von den „richtigen“ Linken dafür belächelt und verachtet.

 

Treten neue Parteien in ein Parteiensystem ein bzw. werden kleine Parteien auf einmal (parlamentarisch) erfolgreich, so wird damit in der Regel verbunden, dass diese eine gewisse Skepsis gegenüber grundlegenden Entwicklungen artikulieren. So die Grünen, so auch die PDS. Der skeptische Impuls wird von anderen Parteien verarbeitet, aufgenommen.[6] Schon die erste AfD, die von Lucke  & Co., die euroskeptische Partei war eine parteiförmige Gestalt des politischen Expressionismus, der Protestation. „Es sind eher Ängste apokalyptischer Art, der Untergang von Vertrautem, Überschaubarem, der eigenen bürgerlichen, nationalen, staatlichen Welt und Ordnung wird sorgenvoll antizipiert, wenn der Euro und wenn Europa scheitern.“[7] Diesbezüglich, in ihrem Charakter als Partei eines tiefen kulturellen Unbehagens, ist die zweite AfD von Frauke Petry mit der alten AfD genidentisch.

Die große Frage wird sein, ob und wie es den Parteien gelingt, das Thema der AfD, die politische Wieder-In-Wert-Setzung der Gemeinschaft, aufzunehmen und mit den eigenen Themen, speziell der Gesellschaftsgestaltung, zu rekombinieren. Es gibt sicher einen Übertrag des Ideologischen und der Werte von den „Heimatlosen Gesellen“ des 19. Jahrhundert auf die deutschen Linken heute. Aber das betrifft vor allem wohl jenen Teil, der zur kosmopolitischen Elite, zu den Globalisierungs-gewinnern aus der gebildeten Mittelschicht zu zählen ist.[8]

Wird DIE LINKE einen Weg finden, ein anderes Zukunftsbild als die alte, alle Menschen umfassende Bruderschaft der Arbeitenden umfassende Weltgemeinschaft zu entwerfen? Wird sie Respekt für bestehende Lebensentwürfe und Gemeinschaftsformen zurückgewinnen? Kann sie auch mit „Unseren kleinen Träumen“ (Jan Korte) leben, ohne die Utopie von einer anderen Gesellschaft aufzugeben? Kann sie es lernen, die Skepsis der Menschen zu teilen und die Arroganz gegenüber deren vermeintlich falschen Leben abzulegen? Wird sie der „Kosmopolitismus-Falle“ (Wolfgang Merkel) entrinnen können?

 

 

 

 

 

 

 

[1] Etwas analytisches Rüstzeug, etwa die kategoriale Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, braucht es schon. Siehe dazu Peter Rubens Auseinandersetzung mit F. Tönnies, http://www.peter-ruben.de/schriften/Gesellschaft/Ruben%20-%20Grenzen%20der%20Gemeinschaft.pdf und http://www.peter-ruben.de/schriften/Gesellschaft/Ruben%20-%20Gemeinschaft%20und%20Gesellschaft.pdf

 

[2] “I think we’ve been through a period where too many people have been given to understand that if they have a problem, it’s the government’s job to cope with it. ‚I have a problem, I’ll get a grant.‘ ‚I’m homeless, the government must house me.‘ They’re casting their problem on society. And, you know, there is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look to themselves first. It’s our duty to look after ourselves and then, also to look after our neighbour. People have got the entitlements too much in mind, without the obligations. There’s no such thing as entitlement, unless someone has first met an obligation.“ Prime minister Margaret Thatcher, talking to Women’s Own magazine, October 31 1987

 

[3] Siehe dazu auch David Bebnowski, Freund und Feind, ND vom 20.03.2016 und Thomas Falkner und Horst Kahrs, Der Gegenentwurf zur Kaltherzigkeit, FR vom 01.04.2016

[4] Harald Pätzolt, Vor einer Neuordnung, DISPUT März 2016

[5]  Ich folge hier Hanspeter Kriesi, der dem Cleavage-Ansatz verpflichtet ist: “It may be possible that in our contemporary society, the politically relevant social groups are no longer so much defined by social-structural categories, as by opposing value orientations.” Siehe: Restructuration of Partisan Politics and the Emergence of a New Cleavage Based on Values, West European Politics Volume 33Issue 3, 201

 

[6] Harald Pätzolt, Über kleine Parteien, DISPUT November 2005

[7] Harald Pätzolt, Kurzanalyse der AfD, Politische Berichte, Zeitschrift für linke Politik  Nr. 5 vom 10. Mai 2013, S.6f.

[8] Wolfgang Merkel argumentiert ähnlich, Volksparteien ohne Volk. Der Tagesspiegel, Berlin, 20.03.2016, S. 5


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