Spielen

Koautorin: Dr. Ilona Salz

(veröffentlicht in: Elternhaus und Schule 9/85, S. 18-19)

 

»Sei froh, daß du spielen darfst!« hören Kinder manchmal, und zweifellos gehört das Spiel zu einer glücklichen Kindheit. Fragen wir spielende Kinder, warum sie wohl spielen, erhalten wir – soweit die Frage einer Antwort für wert befunden wird – bestimmt folgende Auskunft: »Na, weil es Spaß macht!« Wenn dem so ist, warum klagen dann Mütter oder Väter im Bekanntenkreis oder in Elternversammlungen oft: »Mein Kind spielt gar nicht richtig!« Sie berichten, daß ihr Kind nicht allein, nicht mit anderen spielt, schnell ein Spiel aufgibt. Andere Eltern merken, daß mit ihrem Kind keiner gern spielt oder daß es das Spiel der anderen ständig stört. Welche Ursachen all das auch immer haben mag, eines wird deutlich: Spielen können ist keine angeborene Fähigkeit, Spielen muß erlernt werden. Lesen Sie, was Dr. Ilona Salz und Dr. Harald Pätzolt dazu schreiben.

 

Spielende Kinder beschäftigen sich über längere Zeit intensiv al­lein. »Es spielt«, stellen Eltern auf­atmend fest, und auf Zehenspit­zen entfernen sie sich von der Kin­derzimmertür, um die wenige un­gestörte Zeit zu nutzen. Doch nicht immer klappt alles so pro­blemlos, geradezu ganz von allein. Da klagt der Sprößling über Lan­geweile und steht der Aufforde­rung »Dann geh doch spielen!« recht mißmutig gegenüber. Ei­gentlich können wir ihm das nicht übelnehmen. Kinder spielen nicht in erster Linie, um sich die Zeit zu vertreiben, sondern um die Fülle ihres Erlebens zu verarbeiten.

 

Wer sich langweilt, spielt nicht

 

Überlegen wir doch einmal, wie es uns ergeht. Haben wir etwas Inter­essantes erlebt, fühlen wir uns an­geregt und tatendurstig, während täglicher Trott, Anregungsmangel uns eher passiv und träge ma­chen. Wer viel erlebt, der hat auch das Bedürfnis, sich mitzuteilen, sei es in einem Gespräch oder im Brief. Besonders begabte Men­schen werden angeregt, etwas Neues zu schaffen, eine Idee wird geboren, vielleicht ein Kunstwerk. Kaum ein bedeutendes Werk dürfte dagegen aus Langeweile entstanden sein!

Ganz ähnlich verhält es sich beim Kind. Mangelt es ihm an Eindrücken, so fehlen ihm Anregung und Stoff zum Tätigsein. Dabei ist für das heranwachsende Kind, das hinreichende Einblicke in das Le­ben der Erwachsenen und in seine nähere Umwelt erhält, fast alles in­teressant. Um das Gesehene und Gehörte zu ordnen, es sinnvoll in seine Erfahrungen einzubauen, stellt es Fragen und verlangt nach Erklärungen. Der Hauptanteil der Verarbeitung erfolgt jedoch im Spiel, denn Kinder ergreifen spie­lend von unserer Welt Besitz. Im spielerischen Umgang mit den Dingen, im freien Nachvollzug von gesehenen Handlungen lernen sie, diese verstehen, »begreifen« die Eigenschaften und Möglichkeiten, die in ihnen, den andern – Spiel­kameraden, Geschwister oder El­tern – und der Umwelt stecken: Das Kleinkind ahmt die Bewegun­gen der Mutter mit dem Wischlap­pen nach. Bald wird es »Staubwi­schen« spielen.

Später werden die Spiele komple­xer, das Kind gestaltet im Rollen­spiel Themen wie »Einkaufen«, »Mutter und Kind«, »Friseur«, oder »Tierpark«. In Konstruktionsspie­len entstehen ganz unterschiedli­che Produkte. Was da geschieht, gebaut und ausgeknobelt wird, ist jedoch nie eine platte Kopie der Wirklichkeit, sondern abgewandelt und akzentuiert. Dadurch wird deutlich, was ein Kind an dem be­treffenden Lebensbereich oder Gegenstand momentan beson­ders beschäftigt:

Ulrike ist eine übermäßig strenge Puppenmutti, ständig zankt sie mit ihren Puppenkindern. Dabei schimpfen Ulrikes Eltern gar nicht oft mit ihr. Es ist ihr aber doch derart aufgefallen, daß es ihr Bild von den Eltern für einige Zeit be­stimmt.

Thomas’ Tierpark hat besonders hohe und dicke Mauern. Manche Tiere sind ihm noch etwas un­heimlich, und so ist ihre sichere Unterbringung im Moment sein größtes Problem.

Die Zwillinge Jörg und Sven hatten mit ihrem Vater dessen Arbeits­platz, eine Baustelle, besucht. Jörg interessierten dabei techni­sche Probleme des Bauens, was sich nun in einer neuen Kompli­ziertheit seiner Konstruktions­spiele niederschlägt. Sven war da­gegen mehr von den Anweisun­gen des Brigadiers fasziniert, und nun gibt er seine neuerworbenen Kenntnisse in Sandkastenspielen mit Gleichaltrigen weiter, wobei er fachkundig die Aufgaben verteilt. Kinder, die viel erleben, erfinden viele Spiele. Spiel braucht das Er­leben. Andererseits braucht kindli­ches Erleben das Spiel, um richtig wirksam werden zu können. Jün­gere Kinder benötigten nach auf­regenden Erlebnissen eine län­gere Spielphase für ruhiges Aus­klingen. Ältere Kinder und Jugend­liche erleben bereits ganz bewusst die entspannende Wirkung des Spiels. Spielzeit ist nie »ver­spielte« Zeit.

 

Über das Alltägliche hinaussehen

 

Was ein Kind gerade spielt, ist nicht unbedingt der direkten Be­obachtung zugänglich. Das spie­lende Kind schafft eine Phantasie­welt, in der es sich mit großer Si­cherheit zurechtfindet und der Er­wachsene unter Umständen erst einmal hilflos gegenüberstehen: Stefan und Kerstin hocken inmit­ten eines Kreidekreises auf dem Hof. Als die Oma den Hof betritt, rufen sie: »Oma, du mußt schwim­men, sonst ertrinkst du!« Dann wird der verständnislos dreinblickenden Oma das Spiel erklärt. Die beiden sind Schiffbrüchige, und der Kreidekreis markiert eine ein­same Insel im wilden Meer. Nun beraten sie über Möglichkeiten ih­rer Rettung…

Am Beispiel wird Typisches deut­lich: Kraft der Phantasie und mit einfachen Hilfsmitteln wird eine Spielsituation geschaffen, in die alles andere eingeordnet wird. Wenn wir hin und wieder mitspie­len, merken wir bald, daß es gar nicht so leicht ist, hier wirklich Partner zu sein. Spielende Kinder haben in hohem Maße die Fähig­keit, alltägliche Dinge mit anderen Augen zu sehen und ihnen neue Funktionen zu verleihen. Spielen ist eine äußerst schöpferische An­gelegenheit.

Unter diesem positiven Aspekt sollten wir es auch tolerieren, daß Spielsachen oder Dinge unserer Umgebung zeitweise neuen und ungewöhnlichen Zwecken dienen. Freilich sind wir im ersten Moment ärgerlich, wenn wir unsere Schachfiguren als »Brausefla­schen« im Kaufmannsladen des Sprößlings wiederfinden, dem dazu noch Mutters beste Anstecknadel als »Namensschild« des Ver­käufers auf der Brust prangt. Da ist dann durchaus der Hinweis an­gebracht, daß das Kind vor der Benutzung solcher Sachen den Besitzer um sein Einverständnis bitten möchte.

Andererseits können wir uns aber an der Leistung des Kindes freuen, denn es hat Beachtliches vollbracht: Nachdem das Thema des Spiels – »Verkaufen« – fest­stand, ging es zielstrebig an die Verwirklichung. Es brauchte dazu keinen komplett eingerichteten Minikaufladen, sondern überlegte selbst, was dazugehört und was sich ersatzweise verwenden läßt. In der Suche nach solchen Ersatz­gegenständen zeigen sich Ziel­strebigkeit, Phantasie und Ideen­reichtum. Dabei gelingt es dem Kind, bestimmte Merkmale der Dinge auszugliedern (Form der Flasche, besonderes äußeres Kennzeichen des Verkäufers) und von anderen zu abstrahieren. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß Spiel in dieser Beziehung etwas mit Problemlösen gemeinsam hat.

Kinder, die ideenreich spielen, las­sen sich auch bei Schwierigkeiten nicht so leicht entmutigen, sind hartnäckiger und ausdauernder bei der Suche nach einer Lösung. Ihnen wird sicher auch später im­mer etwas einfallen, sei es ein ori­ginelles Geschenk, eine Idee für einen FDJ-Nachmittag oder eine ungewöhnliche Lösung einer Schulaufgabe.

 

Sich spielend engagieren lernen

 

Im Spiel verwandelt sich nicht nur die Umwelt des Kindes, sondern auch seine eigene Person. Es schlüpft in eine Rolle, in der es ty­pische Handlungen ausführt (als Schaffner, Bauarbeiter, Mutter, Tischdienst), mit der es sich aber auch gefühlsmäßig identifiziert. Spielende Kinder wollen sich in ih­rer Rolle akzeptiert wissen: Bauarbeiter Marcus wird höchst ungehalten, als die Mutter ihn zum Frühstück ruft. Daß sie aber dann bereit ist, ihm sein Frühstück »auf den Bau« zu bringen, erlebt er als eine enorme Bereicherung seines Spiels.

Puppenmutter Julia ist ganz entrü­stet, als sie überraschend zum Spaziergang mit den Eltern aufge­fordert wird. Gerade hat sie ihr Kind ausgezogen, um es zu ba­den. Da kann sie doch nicht ein­fach weggehen! Leicht kann es in so einer Situa­tion zu Auseinandersetzungen kommen, wenn das Kind zornig und unter Tränen darauf beharrt, Begonnenes vollenden zu dürfen. Ist das einfach nur eine Unart, der man mit Konsequenz begegnen muß? Es ist auf jeden Fall mehr. In solcher Beharrlichkeit zeigt sich die Fähigkeit des Kindes, sich mit seinem Tun voll und ganz zu iden­tifizieren – eine Fähigkeit, die es im späteren Leben dringend braucht. Mit der gleichen Konse­quenz, mit der es seine Spielideen zu Ende führt, wird es später ler­nen und arbeiten. Deshalb verge­ben wir uns nichts, wenn wir das Spiel des Kindes ernst nehmen, uns ein wenig mit ihm arrangieren und eine Spielunterbrechung bei­spielsweise rechtzeitig ankündi­gen. Ernst zu nehmen sind auch die Gefühle, die ein Kind im Spiel erlebt, denn sie sind tief und echt. Es empfindet Liebe und Verant­wortung für seine Puppen, Stolz auf sein Bauwerk und Ehrgeiz im Wettbewerb. Wer hat nicht schon erlebt, daß Sohn oder Tochter wutentbrannt die Karten auf den Tisch knallt. Sich bei Karten- oder Gesellschaftsspielen mit der Rolle des Verlierers abzufinden, das ist ja nicht nur für Kinder ein Pro­blem. Nicht-verlieren-Können wird leicht als negativer Charakterzug angesehen. Jedoch zeigt der Är­ger des Verlierers auch die Stärke seines Engagements im Spiel. Wenn sich einer beim Spiel nie är­gert, sollte das genauso bedenk­lich stimmen wie die Überreaktion des Verlierers. Identifikation gehört zu jedem Spiel. Wer sie nicht erlebt, wird auch keine rechte Freude am Spiel haben. Und Spaß muß das Spielen schon machen – gerade weil Kinderspiel nicht »bloß ein Spiel« ist.


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