Gemeinsamkeit – spielend gelernt

 

(Veröffentlicht in: Elternaus und Schule, Heft 10/1985, S. 12 – 13. Koautorin: Dr. Ilona Salz)

 Uns mit anderen Menschen verständigen und in sinnvoller Abstimmung mit ihnen zusammenwirken, das ist eine wichtige Grundlage unseres täglichen Lebens. Wenn wir damit einmal Probleme haben, denken wir mitunter wehmütig an die scheinbare Leichtigkeit, mit der Kinder ihre zwischenmenschlichen Beziehungen regeln können. Wie sich Gemeinsamkeit im Spiel herstellt wie Kinder lernen, miteinander umzugehen – darüber schreiben Dr. Ilona Salz und Dr. Harald Pätzolt.

 

Miteinander spielende Kinder tref­fen  wir überall – auf dem Spielplatz, im Park, auf den Wiesen. Wie stark beeindruckend sind ihre Geselligkeit und Ausgelassenheit! Doch der erste Blick trügt hier. Nehmen wir uns einmal die Zeit, beobachten wir einige Kinder auf dem Spielplatz. Was geschieht an der Rutsche nicht alles in nur zehn Minuten! Einträchtiges Miteinander wechselt mit heftigem Streit, manchmal fließen auch Tränen. Und nebenan spielt die ganze Zeit ein Kind allein. Das kleine Mädchen »traut« sich nicht zu der Gruppe »Plumpsack« spielender Kinder. Und ein Junge kommt ein­fach nicht dran auf der Schaukel. Es ist also auch für Kinder nicht so einfach, zu produktiver Ge­meinsamkeit zu kommen. Da müssen Absichten koordiniert und Meinungen ausgetauscht werden, Vorgehensweisen sind miteinan­der abzustimmen. Nicht selten müssen eigene Wünsche zurück­gestellt werden. Die anderen ver­stehen können und sich selbst verständlich machen, das sind auch für das Kind schwierige Auf­gaben. Der Prozeß des Erwerbs dieser und anderer ähnlicher Fä­higkeiten, den man als soziales Lernen bezeichnet, ist nicht weni­ger kompliziert als andere Lernprozesse. Die Regeln des Um­gangs miteinander lassen sich da­bei kaum theoretisch aneignen, sondern nur durch die Erfahrung in der eigenen, möglichst vielfälti­gen Tätigkeit mit anderen.

 

Was ein spielendes Kind beachten muß

 

Das Spiel, die Haupttätigkeit der jüngeren Kinder, ist ihr wichtig­stes Feld für die Aneignung sozialer Erfahrungen, denn es bietet wie kaum eine andere Tätigkeit Möglichkeiten dafür. Besonders im Rollenspiel kommt ein so viel­fältiges Geflecht sozialer Anforde­rungen zusammen, daß man sich wundert, wie das Kind dies überschaut und beherrscht. Es schlüpft innerhalb kurzer Zeit in unterschiedliche Rollen und spie­gelt dabei in seinem Verhalten typische Eigenschaften, Tätigkeits­merkmale und Beziehungen der dargestellten Personen wider. Da das Rollenspiel häufig mit anderen Kindern gemeinsam gespielt wird, geht das Kind gleichzeitig Bezie­hungen zu den Mitspielern ein, die komplizierter sind, als man auf den ersten Blick vermutet. Es ver­hält sich in der Rolle zu ihnen -zum Beispiel als »Mutter«, die ihre »Kinder« belehrt. Gleichzeitig bleibt es sich aber der Spielsitu­ation bewußt und kann jederzeit aus ihr heraustreten, um von Spielpartner zu Spielpartner Ab­sprachen zu treffen.

Es ist faszinierend, wie mühelos dieser Wechsel gelingt. Eben noch ermahnende Mutter – dabei Gestik, Mimik und Tonfall trefflich nachahmend -, ist Kerstin ange­sichts der ungehorsamen Kinder von einem Augenblick zum ande­ren entrüstete Mitspielerin und fordert energisch die Einhaltung der getroffenen Spielübereinkunft, also die Wahrung ihrer mütterlichen Autorität. Und da die Kinder Einsicht zeigen, fällt sie sofort wie­der in die spielerische Tonart zu­rück.

So hat das Kind ständig mehrere Dinge gleichzeitig zu beachten: Da sind einmal die Anforderungen der Rolle (Was tut eine Mutter so alles?) und die Beziehungen in der Rolle zum Partner (Wie ist die Mutter zu ihren Kindern?). Weiter­hin gibt es Beziehungen zu Spielpartnern (Wie spiele ich meine Rolle so, daß alle Spaß am Spiel haben?) und Anforderungen der Spielsituation, die durch äußere Faktoren bedingt sind (Wie laut darf man sein? Wie weit darf man sich entfernen?). Das Kind hat also eine Vorstellung von dem, was es spielt (Rolle). Wie es mit all diesen Anforderungen zurecht kommt, kennzeichnet sein erreichtes soziales Niveau.

 

Wie man ein guter Mitspieler wird

 

Die Themen der Rollenspiele un­serer Kinder sind so vielfältig wie das Leben selbst. Alles was sie interessiert und begeistert, aber auch das, was ihnen mißfällt und sie bedrückt, wird spielerisch von ihnen aufgegriffen. Je intensiver etwas erlebt wurde, desto stärker der Drang, es im Spiel nachzuge­stalten. Mit dem Heranwachsen des Kindes ändern sich natürlich sein Erlebnisbereich und damit seine Interessen. Die Spielthemen wechseln. Auch in der Gestaltung von Rollen gibt es typische Ent­wicklungsverläufe. Jüngere Kinder (Zwei- bis Dreijährige) konzentrie­ren sich vor allem auf äußere Tä­tigkeitsabläufe, die leicht zu durchschauen sind. Sie ziehen ihre Puppen an und aus, füttern sie oder legen sie schlafen. Mitunter erfährt eine Puppe dabei recht unsanfte Behandlung, da das kleine Kind noch nicht bewußt dar­auf aus ist, eine Mutter-Kind-Beziehung darzustellen. Die meisten Rollen werden in diesem Älter auf wenige markante Tätigkeiten redu­ziert. Bei einem Arztbesuch etwa interessiert besonders das Sprit­zen, und so wird es nun als her­vorstechende Tätigkeit im Spiel mit den Puppen und Teddys end­los wiederholt.

Um das dritte Lebensjahr herum wird das Verhalten des Kindes in der Rolle differenzierter. Es führt nun nicht mehr nur einzelne Tätigkeiten an der Puppe aus, sondern bringt durch behutsames Aufneh­men, Streicheln und Zureden eine Beziehung zu ihr zum Ausdruck – eben die liebevolle Beziehung der Mutter zum Kind. Beim- Füttern, – Ausziehen, Baden- und Hinlegen beginnt es, auf die korrekte Rei­henfolge zu achten. Ebenso wird nun die Beziehung des Arztes zum Patienten differenzierter dar­gestellt, mit Befragen, Trösten und Behandeln. Das Kind weitet die Rollen immer mehr aus, ent­deckt und spielt schließlich auch die Beziehungen der von ihm dar­gestellten Person zu weiteren Per­sonen. Es spielt die Mutter, die mit dem Kind einkaufen geht, es in den Kindergarten bringt oder dem Arzt vorstellt. Wieviel Verständnis von uns und unserer Welt zeigt sich doch darin!

Spielen mehrere Kinder gemeinsam, so stellt sich die Frage der Rollenverteilung. In fast allen Spie­len gibt es gefragte und weniger gefragte Rollen. Die meisten Kin­der wollen Personen verkörpern, die sie als besonders fähig und angesehen empfinden und von deren interessanten Tätigkeiten sie sich angeregt fühlen. Sie möchten also lieber Mutter, Arzt oder Krankenschwester sein, die Rollen des Kindes oder Patienten sind nicht so begehrt. So beginnt manches Spiel mit heißen Wortgefechten um die Rollenverteilung. Wer einen begehrten Part erhält, der hat einen ersten sozialen Erfolg errungen. Doch im Spiel selbst erlebt er bald, daß dieser mit neuen Anforderungen verbun­den ist. Wer eine zentrale Rolle in einem Spiel bekleidet, hat wesentlichen Anteil am und auch Verant­wortung für zügigen und interes­santen Fortgang. Diesen Anspruch können nur Kinder erfüllen, die bereits fundiertes Wissen über die Tätigkeiten und Verhaltensmöglichkeiten der Personen haben, die sie gerade verkörpern, und es auch umsetzen können. Dadurch wirken sie anregend auf den Spielverlauf und auf andere Kinder. Sie haben gute Chancen, auch zukünftig wieder in attraktive Rollen gewählt zu werden.

Manuela ist eine allgemein aner­kannte »Mutter«, unter deren Lei­tung andere gern die Kinderrolle übernehmen. Sie arrangiert Geburtstagsfeiern mit allerlei Überra­schungen, besucht mit ihren »Kindern« einen imaginären Zoo und macht mit ihnen einen Wochenendausflug mit Picknick im Freiem. Woher hat sie diese Fähigkeiten? Manuela schöpft dabei aus Erfah­rungen, die sie gemeinsam mit ihren Eltern machte und nun spielerisch nacherlebt. Starke positive Erlebnisse sind die wichtigste Quelle kindlicher Spiele. Sei es ein Zirkusbesuch, eine Reise oder auch eine schöne Geschichte – sie regen Kinder zum Nachgestal­ten und Nachempfinden an. Kin­der mit eingeschränktem Erlebnis­bereich haben es da schwerer, et­was Neues zum gemeinsamen Spiel beizutragen. Sie müssen öf­ter als andere die Erfahrung ma­chen, seltener in attraktive Rollen gewählt zu werden oder diese nicht zufriedenstellend ausfüllen zu können.

Daher ist es wichtig für uns zu wissen, was und wie unser Kind mit anderen spielt, um ihm gege­benenfalls neue Anregungen zu geben, die seine Position in der Spielgruppe verbessern. Versu­chen Sie ruhig einmal, mehr von Ihrer Kindergärtnerin zu erfahren, als daß Ihr Kind immer »schön gespielt« hat.

Übrigens: Je besser ein Kind weiß, »was es kann«, je mehr Anerken­nung es finde Spielgruppe er­fährt, desto bereitwilliger ordnet es sich auch beim nächsten Spiel ein, in dem es nicht führt. Gute Spieler sind auch unter Kindern stets gute Mitspieler!

 

Von Schwierigkeiten und dem Wert des Miteinander

 

Nicht nur bei der Rollengestaltung lassen sich Entwicklungsverläufe feststellen, auch die Fähigkeit zur Gemeinsamkeit im Spiel wird erworben. Kleinkinder spielen eher nebeneinander als miteinander. Dennoch brauchen auch sie schon den Partner. Allein die Anwesenheit des anderen Kindes, die Möglichkeit, ab und zu  hinüberzuschauen, vermittelt Gefühle der Geborgenheit und Anregun­gen. Bei jüngeren Vorschulkindern ist die Gemeinsamkeit meist durch einen gemeinsamen Spiel­gegenstand vermittelt. Da werden Bausteine ausgetauscht, oder ein Ball wird zwischen den Partnern hin und her gerollt. Ältere schließ­lich planen ihre spiele bereits recht vollständig, indem sie Rollen und Abläufe vorher festlegen. Ge­wisse Variationen sind dabei er­laubt. Das ermöglicht unterschied­liche Spielverläufe, läßt keine Lan­geweile aufkommen und nötigt den Spielpartnern echte Leistun­gen ab.

So kann es für die »Mutter« recht anstrengend sein, ihre unfolg­samen »Kinder« zu bändigen, und es bedarf einiger Einfälle ihrer­seits. Gelingt die Aktion, verläuft das Spiel erfolgreich. Was ge­schieht aber, wenn ein Partner seine Rolle überzieht oder ganz aus der Rolle fällt? Wenn die »Kin­der« der »Mutter« absolut nicht mehr gehorchen oder der »Pa­tient« die Instrumente des »Arz­tes« eigenmächtig gebraucht? In so einem Fall scheitert das Spiel, die Handlungen lassen sich nicht mehr koordinieren. Die Kinder, die sich an die Regeln gehalten ha­ben, reagieren auf die »Störer« mit Recht unwillig. Doch selbst das nunmehr gestörte Spiel vermittelt noch eine soziale Erfahrung: Ohne Einhaltung bestimmter Grundre­geln, ohne eine gewisse Anpas­sung aneinander geht es nicht. Da kindlicher Zank oft nicht lange an­hält, einigt man sich bald auf ein neues Spiel – diesmal mit mehr gegenseitiger Rücksicht und so­mit auch größerer Aussicht auf Er­folg.

Der Erwachsene sollte nur dann eingreifen, wenn wegen Mangel an Einsicht kein neues Spiel gelingen will. Kindliche Auseinandersetzun­gen sind erst einmal nicht unbe­dingt ein Grund zum Intervenie­ren. Auch Streiten will gelernt sein! Die Einsicht, daß mit einem Abbruch des Spiels keinem ge­dient ist, stellt sich bei den mei­sten Kindern von selbst ein. Mit der zunehmenden Lust, wieder mit den anderen zu spielen, wächst auch die Bereitschaft, sich zu einigen. Da kann man ruhig mit Vorschlägen helfen.

Das Spielverhalten des Kindes hängt auch stark von den Erwar­tungen der Erwachsenen ab, die sie ihm direkt durch Lob und Kritik oder indirekt durch ihr Verhalten mitteilen. Da diese Erwartungen unterschiedlich sein können, pas­sen sich Kinder schnell der ent­sprechenden Situation an, spielen zum Beispiel im Kindergarten an­ders als zu Hause oder auf dem Spielplatz. Auch das ist soziales Lernen. Kritisch wird es nur, wenn Eltern zeigen, daß Spiel für sie un­wichtig, nur ein Zeitvertreib ist. Kinder sind stolz auf ihre Erfolge im Spiel. Wenn Stefan glücklich erzählt, daß er heute der Indianer­häuptling sein durfte, sollte man seine Freude ruhig teilen und nicht mit einem: »Wasch dich lie­ber erst mal richtig, das ist wichtiger!« reagieren. Erleben Kinder häufig, wie ihr Spiel und ihre Spiel­gruppe abgewertet werden, so können sie auch selbst eine de­struktive Einstellung zum Spiel entwickeln und ein gestörtes Spielverhalten zeigen. Damit ver­ringert sich aber das Feld der sozialen Erfahrungen für diese Kin­der erheblich, sie haben es im Umgang mit anderen oft schwerer.

Manche Eltern wundem sich, daß ihre »braven« Kinder sich im Spiel in die Rollen der besonders Fre­chen und Wilden drängen. Dabei kompensieren sie auf diese Art doch ihr unbefriedigtes Bedürfnis alles Erlebte nachspielend auszu­probieren. Bei diesen Eltern nimmt das Spiel ihrer Kinder viel­leicht einen zu geringen Platz im Familienalltag ein.

Wenn wir das Spiel als wichtige Tätigkeit des Kindes anerkennen, dann müssen wir das Kind auch in dieser Tätigkeit achten und för­dern. Es erschließt sich dadurch Erfahrungsbereiche, die weit über das »Spielalter« hinaus sein Leben beeinflussen.


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