Lebenslanges Nichtlernen biopsychosozial notwendiger Verhaltensweisen – ein legitimer Gegenstand entwicklungspsychologischer Forschung?

 

 Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten auf der Berliner Konferenz „Biopsychosoziale Einheit Mensch”, veranstaltet von der Humboldt-Universität zu Berlin, 25. – 27. Januar 1989

  

„Auch ich habe meine persönliche Krise mit der Wissenschaft durchgemacht. Doch sie war für mich zu Ende, als ich mein Leben als Prozess begriff, nicht als einen soliden Block, an dem sich Geld und Fett und ‚gesichertes Wissen’ ansetzen. Nach meiner letzten Zählung lebe ich bereits meine neunte dynamische Lebensstruktur, mit ‚Beruf’ nur unzulänglich charakterisiert. Immer wieder wurde ich durch unerwartete Fluktuationen über eine Instabilitätsschwelle in eine neue Struktur getrieben. Ich habe es nie bereuen müssen.”

Erich Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums (1982), S. 18f.

 

Daß der Mensch über seine gesamte Lebensspanne hinweg ein lernfähiges Wesen ist, ist unter Psychologen heute weitgehend unbestritten. Ebenso unbestreitbar ist indes, daß jede Biographie den Sachverhalt des Nichtlernens biopsychosozial notwendiger Verhaltensweisen erkennen lässt. Vom Standpunkt der Alltagserfahrung und der Naiven Psychologie ist das trivial. Jedermann weiß, was er alles an Verhaltensweisen nicht gelernt hat, wohl auch nicht mehr lernen wird, die z.B. für die physische und psychische Gesunderhaltung oder die Bewältigung sozialer Anforderungen notwendig wären. Wir wissen, haben es mitunter schmerzlich erfahren, wie wenig wir auf die Bewältigung normativer oder nichtnormativer Lebensereignisse vorbereitet waren. Und endlich haben wir doch ungefähre Vorstellungen darüber, welches Ausmaß an Nichtlernen für wesentliche Entscheidungen in unseren Biographien verantwortlich waren.

Dieses Phänomen ist nun vom Standpunkt der Entwicklungspsychologie nicht trivial. Folgen wir nämlich Baltes, Reese und Nesselroade (1988), dann sind menschliche Erlebens- und Verhaltensweisen, die durch Nichtlernen gekennzeichnet sind, kein Gegenstand der Entwicklungspsychologie: „Developmental psychology deals with the description, explanation, and modification (optimisation) of intraindividual change in behavior access the life span, and with interindividual differences (and similarities) in intraindividual change.”[i]

Dennoch ist die entwicklungspsychologische Forschung mit dem Sachverhalt des Nichtlernens von bestimmten Verhaltensweisen beständig konfrontiert. Ich werde zeigen, daß sich dieses Dilemma erstens als methodologisches Problem aktueller entwicklungspsychologischer Forschung präsentiert und daß es zweitens gewissermaßen der Widerspruch ist, der das Verhältnis von Entwicklungspsychologie und Allgemeiner Psychologie durch die Geschichte hindurch bestimmt hat.

 

Nichtlernen als Problem der Methodologie entwicklungspsychologischer Forschung

 

Folgen wir dem Ansatz, den H.-D. Schmidt (1977)[ii] vorgestellt hat, dann gehört unser Problem in die Klasse der Probleme der Methodologie der Bewertungsprozesse. Bewertungsprozesse in der entwicklungspsychologischen Forschung haben zu tun mit dem normativen Aspekt der psychischen Entwicklung. Bewertungsprozesse kommen u. a. dort ins Spiel, wo es (a) um die Bestimmung des Ausprägungsgrades kindlicher Befähigungen und (b) um die Diagnostik kindlicher Entwicklungspotenzen geht.

Die Methodologie der Bewertungsprozesse ist anforderungsorientiert. Das heißt, sie orientiert sich an den Anforderungen, die die Individuen im Prozeß der Sozialisation zu bewältigen haben.

Für Bewertungsprozesse in der entwicklungspsychologischen Forschung gibt es eine Vielzahl von Bewertungskriterien. Zu den wesentlichen Kriterien zählt H.-D. Schmidt:

„…

–         Ausmaß und Inhalt der Aktivität, des selbständigen,  schöpferischen Leistungsverhaltens

      und der gesellschaftsverändernden Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen;

–         Ausmaß und Inhalt der Bewusstheit, des kritisch reflektierenden Stellungnehmens zu sich

–          selbst, zu den eigenen Lebensbeziehungen und zu den Erscheinungen und Triebkräften der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt…

–         Ausmaß und Inhalt der Soziabilität, der kollektiv orientierten und getragenen Lebensweise und -gestaltung im sozialen Kommunikationsprozeß und in der arbeitsteiligen Kooperation”[iii]

Diese Kriterien sind allgemein, hochgradig abstrakt und bedürfen der sequentiellen Konkretisierung, die die konkrete Lebenssituation der Individuen berücksichtigt.

Wo setzen nun entwicklungspsychologische Forschungen an? Klammern wir einmal den ganzen Bereich aus, der sich exklusiv mit Verhaltensstörungen, ihrer Diagnostik und Korrektur befasst, dann setzen viele entwicklungspsychologische Untersuchungen genau dort an, wo in der Population der sogenannten normalen Kinder und Jugendlichen in der Sozialisation von Seiten der Gesellschaft Defizite größeren Ausmaßes festgestellt werden. Defizit heißt hier: Differenz zur Norm, wobei wir mit H.-D. Schmidt (1982) zwischen kodifizierten, fixierten und gelebten Normen unterscheiden wollen.

 Bei der weiteren Darstellung des Nichtlernens als eines methodologischen Problems der Entwicklungspsychologie will ich mich auf solchen Forschungsweisen beschränken, die mit Interventionen arbeiten, die also mit gezielter Einflussnahme auf Entwicklung und Kontrolle der Effekte als Strategie arbeiten. Das hat den Grund, daß man in diesen Untersuchungen sehr genau definieren kann, was – bezogen auf spezielle Anforderungen – Lernen bzw. Nichtlernen heißt. Ein Beispiel:

In der Abteilung Entwicklungspsychologie unseres Instituts läuft seit einigen Jahren eine Längsschnittuntersuchung, in der Kinder, beginnend im Alter von 3;0 bis 3;4; über die zeit im Kindergarten bis ins erste Schuljahr hinein sozial trainiert wurden und werden. Die Trainingsprogramme waren auf verschiedene Anforderungen kooperativer und kommunikativer Art bezogen, wurden in mehreren Etappen realisiert. Eine Momentaufnahme daraus verdeutlicht das Dilemma.

Zu einem dieser Programme wurde eine Validierungsuntersuchung von Salz, Sturzbecher und Pätzolt durchgeführt )vgl. Sturzbecher 1988). In dieser Untersuchung zeigten sich die Trainingseffekte bei den Kindern der VG im sozialen Niveau der Interaktion von Kinderpaaren im realen Spiel deutlich. Der Interaktionsanalyse lag ein Schema von 7 Kategorien zugrunde:

 K1 – kooperativ – flexible Interaktion

K2 – kooperativ – starre Interaktion

K3 – partnerbezogene Interaktion

K4 – über den Spielgegenstand vermittelte Interaktion

K5 – einseitig dominante Interaktion

K6 – konfliktäre Interaktion

K7 – Nebeneinanderspiel

Während in der vor dem Training durchgeführten Prävalidierungsuntersuchung kooperatives Spiel nicht auftrat, spielten nach dem Training 58,8% der Vpn der VG im Gegensatz zu 7,1% der Vpn der KG kooperativ. Weiterhin zeigte sich bei den Vpn der VG kein einseitig dominantes oder konfliktäres Interaktionsniveau bzw. Nebeneinanderspiel mehr, während in der KG 57,1% der Vpn Interaktionen auf diesem Niveau realisierten.

Im Vergleich VG/KG kann man nun bezüglich genau definierter Anforderungen und entsprechend festgelegter Kriterien sagen, welche Vpn Trainingseffekte zeigen, also entsprechendes Verhalten gelernt haben und welche nicht. Hier ist der entscheidende Punkt: Diese Bewertungen vollziehen sich im entwicklungspsychologischen Theorienraum, sind nicht identisch mit gesellschaftlichen Bewertungen des Verhaltens der Kinder. Die Bezugssysteme sind durchaus voneinander verschieden. Vom Standpunkt der Entwicklungspsychologie – und nur von diesem – erscheint die einfache Reproduktion eines psychischen Phänomens oder Verhaltens als defizitär, als Nicht – Entwicklung.

Defizittheorien in der entwicklungspsychologischen Forschung

 

An diesen Stellen setzen nun die sogenannten Defizittheorien an. Eine Defizittheorie besteht darin, „daß ein Defizit festgestellt und ein Wünschbarkeitspostulat formuliert wird. Defizittheorien sind vom Standpunkt der Grundlagenforschung her sehr ähnlich, vom Standpunkt politischer Wirksamkeit her äußerst relevant und kraftvoll.” (Oser / Schlaefli, in: Oerter 1985, S.111).

Wohlgemerkt: Hier ist die rede von Defiziten im entwicklungspsychologischen Sinne. Diese Defizite haben zwei Eigenarten: sie sind erstens „unsichtbar” für die Erziehungsträger und sie sind zweitens entwicklungspsychologieintern festgestellt und definiert.

Welche Probleme haben Defizittheorien?

(1)   Die Konstanz des Defizits. Das Individuum verhält, reproduziert sich derart, daß im definierten Sinne nicht gelernt wird. (In dem angeführten Beispiel hieße das, daß das festgestellte Interaktionsniveau von der Prä- bis zur Postvalidierungsuntersuchung gleich blieb).

Unsere entwicklungspsychologischen Theorien sagen etwas über Entwicklung, also lernen, aber wenig über Nichtlernen, also: Wie ein System sich reproduziert ohne Entwicklung in jeweils definierten Verhaltensbereichen. Will man darüber etwas aussagen, transzendiert man das Gebiet der Entwicklungspsychologie. Entwicklungspsychologie weist in diesem Sinne also beständig Problemfelder allgemeinpsychologischer Forschung auf und antwortet auf allgemeinpsychologische Theoriedefizite mit entwicklungspsychologischen Defizittheorien.

Das ist auch der Hinweis auf die Geschichte des Verhältnisses von Entwicklungspsychologie und Allgemeiner Psychologie.

(2)   Defizittheorien sind in der Regel an die Entwicklung praktikabler Interventionsstrategien gebunden.

(3)   Die soziale Legitimation des Problems und der Intervention.

Das Defizit, wie es in der Entwicklungspsychologie innerhalb seines theoretischen Rahmens und des jeweiligen Untersuchungsplans fixiert ist, ist für die Gesellschaft ja unsichtbar – dies zum ersten – und Intervention im entwicklungspsychologischen Sinne ist zum zweiten keine verallgemeinerungsfähige Erziehungsstrategie.

(4)   Die Vielfalt der Defizite und der Defizittheorien.

Defizite weisen auf die Existenz sogenannter „unechter” Entwicklungsaufgaben hin. Eine echte Entwicklungsaufgabe „liegt dann vor, wenn die durch sie ausgelöste Aktivität des Individuums zu einer als befriedigend erlebten Verbesserung von Können und Wissen, damit zugleich zu einer erfolgreicheren Lebensbewährung und somit letztlich zu einer progressiven Veränderung der Persönlichkeitsreife führt oder beiträgt”.[iv] Unechte Entwicklungsaufgaben führen also nicht zu erwünschten Effekten und das entwicklungspsychologisch bestimmbare/bestimmte Defizit bleibt verborgen. Dieses Phänomen haben wir scherzhaft das „Rotkäppchen – Syndrom” genannt. Die Märchenfigur des Rotkäppchens ist der klassische Fall: Aus dem Nichtbefolgen einer Anweisung („Geh nicht vom Wege ab!”), also dem „Ungehorsam”, wird auf ein in der Erziehung oder Charakter liegendes Defizit geschlossen, während der Entwicklungspsychologe seine Defizite, also das, was Rotkäppchen in der Situation im Walde versagen ließ, anders definieren würde. Es ist eine ganze Vielfalt solcher Rotkäppchen – Syndrome gerade in dem bereich nichtbewältigter nichtnormativer Lebensereignisse auszumachen. In solchen Fällen werden von der näheren Umgebung der Betroffenen häufig Erklärungsmuster für das „Versagen” produziert, die auf der Behauptung irgendwelcher Defizite beim Betroffenen beruhen.

Treten nun solche Ereignisse für bestimmte Altersgruppen einer Gesellschaft von Jahrgang zu Jahrgang mit einer gewissen Häufigkeit auf und wird dies – etwa der Eintritt Jugendlicher in sogenannte informelle Gruppen – von der Gesellschaft als unerwünscht bewertet, dann bekommen (1) die Erklärungsmuster, Attribuierungen, Bewertungen eine Offizialität, gesellschaftliche Verbindlichkeit und es ist (2) zu erwarten, daß Entwicklungspsychologie sich über kurz oder lang eines solchen Problems annimmt.

 Relevanz des Problems für Längsschnittmethodologie

 

Im Rahmen der Diskussionen über Sinn und Unsinn von Längsschnitten spielen auch Fragen der Beachtung bzw. Nichtbeachtung nichtnormativer kritischer Lebensereignisse eine Rolle. Ich verweise auf K. Gergen (in: Sarris / Parducci 1986) oder R. Dollase (1985, 1988). Bei Nichtbeachtung derartiger Ereignisse zwischen zwei Meßzeitpunkten besteht die Gefahr der Verunreinigung der Ergebnisse – dies ein Hinweis aus dieser Diskussion. Ein anderer Hinweis ist, daß bei Beachtung nichtnormativer kritischer Lebensereignisse die Exklusion zufallsbelasteter Fälle aus der Stichprobe folgt und notwendigerweise die Stichprobenplanung ändern würde. Diese Fälle sind nun aber u. U. besonders interessant. Bei zu erwartender Häufung solcher Ereignisse für die Population, aus der die Stichprobe gezogen wurde, ohne daß prognostizierbar ist, wer wann wie betroffen sein wird, gewinnt die künftige Teilstichprobe an Wert. Bisher ging man meistens davon aus, daß solche Fälle eliminiert wurden. Wenn doch Interesse vorhanden war, bemühte man sich um retrospektive Aufklärung der Unterschiede dieser von den anderen Teilstichproben aus der Ausgangslage.

Aus dem o. g. Problem (1) der sogenannten Defizittheorien (s. S. 3) folgt aber, daß dieses Vorgehen problematisch ist. Transponieren wir es auf die Rotkäppchen – Geschichte. Wir haben dann n Rotkäppchen als Stichprobe, die nun entweder von Wölfen gefressen oder nicht gefressen werden. Welche Daten nun in der Ausgangslage erhoben werden ist theorieabhängig. Wird das Problem als Gehorsamsproblem gesehen, wird alle retrospektive Analyse keine Lösung bringen, warum sich die Stichprobe teilt. Das entwicklungspsychologisch bestimmbare Defizit bleibt unsichtbar.

 Fazit

 

Trotz aller Skepsis plädiere ich für Defizittheorien. Sie scheinen historisch unvermeidbar, für die Entwicklungspsychologie eher Notlösungen, für andere Psychologien Anstöße, Hinweise auf offene Forschungsfelder. Ich plädiere für ein stärkeres Nachdenken über die Rolle von nichtnormativen kritischen Lebensereignissen in der Methodologie der Längsschnitte. Bescheidet man sich damit, die Merkmale kennen zu wollen, die eine Vorhersage ermöglichen, steht das Problem allerdings nicht. Defizittheorien helfen hier weiter, wenn die „Mechanismen”, die Prozesse des Nichtlernens biopsychosozial geforderter Verhaltensweisen unbekannt sind.

 Anmerkungen und Literatur

 

 [i] Baltes, P.B.; Reese, H.W.; Nesselroade, J.R.: Life span developmental psychology, Hillsdale, New Jersey: Lawrence Associates, Publishers, 1988, S. 4

[ii] Schmidt, H. – D.: Methodologische Probleme der entwicklungspsychologischen Forschung. In: Probl. u. Erg. d. Psychol., H. 62/1977

[iii] ebenda, S. 22

[iv] Schmidt, H. – D.: Vorbereitung auf ein aktives Alter – Entwicklungspsychologische Aspekte und Probleme. In: Altern in der sozialistischen Gesellschaft, Autorenkollektiv, Jena 1982, S. 12f.

Dollase, R.: Entwicklung und Erziehung. Stuttgart: Klett, 1985

ders.: Psycho- und Soziaphänomene als Herausforderung für die entwicklungspsychologische Theorienbildung – Zur Untersuchung und Bedeutung von Instabilitätsvariablen in der Entwicklungspsychologie, Typoskript, 1988

Jantsch, E.: Die Selbstorganisation des Universums, München: DTV, 1986

Gergen, K.: Experimentieren und der Mythos des Unverbesserlichen. In: Sarris, V.; Parducci, A.: Die Zukunft der experimentellen Psychologie. Berlin: Dt. Verl. d. Wiss., 1986

Oser, F.; Schlaefli, A.: Das moralische Grenzgänger – Syndrom. In: Oerter, R. (Hrsg.): Lebensbewältigung im Jugendalter: Weinheim: VCH – Verlagsgesellschaft, 1985

Sturzbecher, D.: Entwicklung und Erprobung eines Trainingsprogramms zur sozialen Befähigung von 4 – 5jährigen Vorschulkindern zur Bewältigung kooperativer Anforderungen. Diss. (A), AdPW, Berlin 1988 (unveröff.)


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