Vortrag, gehalten auf der wissenschaftlich-praktischen Konferenz „Entwicklung von Wertvorstellungen durch aktive ästhetische Schulumweltgestaltung”, veranstaltet vom Wissenschaftlichen Rat „Ästhetische Erziehung”, Institut für gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht, APW der DDR, Berlin, 18./19.10.1989.
Vorbemerkung
Die Diskussion über die künftige Gestaltung schulischer Umwelten der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Erwachsenen, konzentriert sich häufig auf die Frage nach neuen Schultypen. Was aber sollten die gesellschaftlichen Gestaltungsabsichten bezüglich der vielen bereits existierenden Schulen sein? Daß dieses Gestalten sich nicht in einer Bekunstung der Schulgebäude erschöpfen kann, scheint heute weithin akzeptiert. Weniger deutlich sind die Ausgangspunkte für diese Diskussion. Meines Erachtens sollte der zentrale Ausgangspunkt die Frage sein, was für ein Verhältnis der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen und Lehrer in der Schule eine Umwelt gestaltet werden soll. Und das ist dann die Frage nach den gegenständlichen Bedingungen künftiger sozialer Strukturen in der Schule.
Das genannte Problem ist ein sehr komplexes. Interdisziplinarität ist gefordert. Zunächst ist aber festzuhalten, daß das Problem gerade wegen seiner Komplexität verschiedene Perspektiven der Wahrnehmung der Schulumwelt durch die in dieser Umwelt lebenden Personen sowie die an der Gestaltung derselben Interessierten erkennen läßt. Architekten, Baubetriebe, Kulturtheoretiker oder Kunsterzieher modellieren diese Schulumwelten durchaus verschieden. Ich gehe in meinem Vortrag erst einmal naiv, d.h. ohne Bezugnahme auf solche Perspektiven an die Thematik heran. Meine Haltung ist weiter die des Neugierigen, d.h. ich habe zunächst ein analytisches Interesse an dem Funktionieren bestehender Schulumwelten. Und endlich ist mein Herangehen ein disziplinäres, d.h. ich beziehe mich auf existierende psychologische Konzepte, die dem Gegenstand angemessen scheinen. Es sind Konzepte aus den Forschungsbereichen der Ökopsychologie und der Sozialpsychologie. Meine Absicht ist es, Ihnen meine Perspektive nahe zu bringen und einige wenige, bislang kaum thematisierte Aspekte des Problems der Schulumweltgestaltung in die Diskussion zu bringen.
1. Zur Werteproblematik
Damit wir für die weitere Diskussion den Kopf frei bekommen vom ideologischen Nebel der letzten Jahre, muß hier erst einmal ein Wort zum Wertefetischismus gesagt werden. Es ist symptomatisch für die hinter uns liegende Epoche, daß Werte weitgehend als Teil der Ideologie bestimmt worden waren. Und die Ideologie selbst erschien als ein nebulöses geistiges Gebilde. Die Aneignung der Werte erschien als Frage der Aneignung einer nicht weiter zu hinterfragenden Ideologie. Zu dieser und damit zu den gültigen Werten gab es ein Verhältnis des Glaubens. Die Frage nach der Herkunft und damit der Legitimation von Ideologie und Werten geriet aus dem Blick.
Richtig ist dagegen, daß Ideologien im Überbau jeder Gesellschaft entstehen und zwar innerhalb der gegebenen ideologischen Verhältnisse. Primär anzueignen wären also die ideologischen Verhältnisse, die die Menschen eingehen, in die sie als Heranwachsende hineingestellt werden. Solche ideologischen Verhältnisse sind die politischen, moralischen, weltanschaulich-religiösen, juristischen und ästhetischen Verhältnisse.
Für diese Verhältnisse haben einzelne Wissenschaften wie philosophische Disziplinen in langer Arbeit (die z.T. bis in die Antike zurückreicht) Wertebegriffe formuliert. Vor diesem Hintergrund verschwindet die Vorstellung, daß uns Alltagsbegriffe, das undifferenziert „Wertvolle” der Alltagssprache als Ausgangspunkt gelten können. Und es verschwindet die Vorstellung, die Fiktion einer einheitlichen Sprache, eines einheitlichen Begriffssystems der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften.
Werte sind gelebte soziale Verhältnisse (politische, ästhetische usw.). Sie erscheinen auf der Seite der Gesellschaft als gültige Verhaltensmuster und auf der Seite der Individuen als Eigenschaften. Für die moralischen Verhältnisse resp. Werte bildet das Begriffspaar Norm und Tugend diesen Sachverhalt ab.
Die einzelnen Erscheinungsformen der Werte sind äußert differenziert. Es finden sich sprachliche und symbolische Formen. Aber auch räumlich-gegenständliche Strukturen sind zu fixieren. So etwa das Lehrerzimmer ohne Klinken, welches den Unbefugten verschlossen ist oder die ungeschriebene Regel, daß die Schüler die Schule nicht durch den Vordereingang betreten sollen. Darin erscheinen soziale Verhältnisse. Ebenso gibt es Formen, die auf Strukturierung des Zeitregimes beruhen. Die Reihenfolge der Esseneinnahme ist so ein Beispiel.
Wertungen nun lassen sich beschreiben als Reflexionen von Werten. Die Individuen nehmen dabei die Beobachterperspektive ein. Sie nutzen vergebene und verbindliche soziale Bezugsrahmen. Ein Bild etwa wird nie als richtig oder gerecht beschrieben, sondern als schön oder häßlich. Und endlich betrifft diese Reflexion alle Elemente der Situation, in der ein Wertverhältnis erlebt wird, nicht nur das Objekt, dem etwa ein ästhetischer Wert zugewiesen wird.
Ein Werturteil ist dann gegeben, wenn bewußt sprachlich der Bezug auf die Gültigkeit der Wertmaßstäbe realisiert wird. Es ist wahr, daß das Bild schön ist.
Ich fasse zusammen. Erstens erscheint Schule hier als soziale Organisation, als Focus ideologischer und anderer sozialer Verhältnisse. Diese Verhältnisse gilt es zu erkennen und zu begreifen, um das Verhalten der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen und Lehrer – welches zu beobachten ist – zu verstehen.
Zweitens erscheint Werteaneignung als Aneignung der sozialen Beziehungen, wesentlich der ideologischen Verhältnisse, in die die Schüler und Lehrer hineingestellt werden und die sie selbst konstituieren durch ihr Verhalten. Diese Aneignung geschieht vornehmlich nicht in den ideologischen Verhältnissen / im ideologischen Verhalten selbst. Es vollzieht sich eher (wenn es bewußt geschehen soll) in Verhaltensformen, die der Reflexion praktizierten alltäglichen Verhaltens dienen. Also in jener Kommunikation, in der über schulisches Verhalten gesprochen wird. Daher ist auch nicht Kommunikation schlechthin zu ermöglichen, sondern es sind Bedingungen für spezifische kommunikative Anlässe und Formen zu schaffen.
Drittens bleibt festzuhalten, daß diese Aneignung in der Schulumwelt und durch diese hindurch geschieht. Daraus erwächst letztlich und endlich der gesellschaftliche Gestaltungsauftrag für die Schule.
2.Schulumwelt als gestalteter Raum
Schulumwelt als gestalteter Raum ist hier zunächst als Ensemble verschiedener Verhaltensräume mit einer bestimmten Topologie zu begreifen. Das heißt, es ergibt sich für die Schulumwelt als subjektiver Lebensraum der Individuen eine eigene Struktur, die nicht auf den ersten Blick sichtbar wird. Lassen Sie mich das kurz skizzieren.
Das Verhalten der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen und Lehrer ist in und zwischen diesen Verhaltensräumen durchaus verschieden. Diese Räume haben bestimmte Bedeutungen und Möglichkeiten, in ihnen gelten bestimmte Regeln des Verhaltens. Sie konstituieren verschiedene soziale Strukturen. Und es gibt interessante Abhängigkeiten des Verhaltens in den einzelnen Räumen voneinander. Das augenscheinlichste Beispiel ist die Einschränkung des Bewegungsdranges in den Klassenräumen und die völlige Freisetzung desselben in den Fluren und auf dem Schulhof.
Um diese Topologie schulischer Verhaltensräume zu erschließen, kann auf viele psychologische Modelle, besonders auf solche der Ökopsychologie zurückgegriffen werden. Nehmen wir einmal das Modell von RICHARD PEEL (1980). Er thematisiert die folgenden Aspekte des Verhaltens bei der Nutzung von Räumen: Einmal sind primäre Bedürfnisse zu befriedigen. Das heißt, Räume müssen ihrem reinen Nutzeffekt nach betrachtet werden. Ein Klassenzimmer etwa muss entsprechend Platz bieten, eine Tür haben usw. Zum anderen sind aber die räumlichen Bedingungen für die Befriedigung sekundärer Bedürfnisse zu beachten! Das heißt, es gibt eine Beziehung zwischen der Identität des Subjekts (des Schülers oder Lehrers) und dem Raum (der Schulumwelt). Diese Beziehung muß einmal die Möglichkeit der Gestaltung des Raumes durch das Subjekt und zum anderen die Möglichkeit der Selbstdarstellung des Subjekts enthalten. Aus diesem Modell lassen sich einfache Fragen für die Untersuchung existierender Schulumwelten ableiten: Wie werden die primären Bedürfnisse befriedigt, welcher Nutzerkonzeption ist die Gestaltung verpflichtet? Welche Formen der Gestaltung durch die Nutzer finden sich, welche Formen der Selbstdarstellung?
Zwischenfazit: Für die Frage nach der Gestaltung schulischer Umwelt ist die Frage wesentlich, wie sich die sozialen Beziehungen und ideologischen Verhältnisse über die Beziehung zwischen der Identität der Subjekte und des Raumes reduzieren. Diese Frage ist zu stellen einmal für die verschiedenen Subjektebenen (Individuum, Gruppe und Organisation) und zum anderen bezüglich der verschiedenen Verhaltensräume der Schulumwelt und ihres Zusammenhanges.
Und, das kommt kaum zur Sprache, diese Frage ist differenziert zu stellen. Differenzen ergeben sich aus Altersunterschieden wie aus Geschlechtsdifferenzierungen, von den interindividuellen Differenzierungen gar nicht zu sprechen. Darauf nimmt kaum eine Gestaltung Rücksicht.
In dieser Dynamik der sich Verhaltenden gewinnen Werte ihre Widersprüchlichkeit und darin kommt diese Widersprüchlichkeit auch zum Ausdruck. Die widersprüchlichen Aspekte individuellen Verhaltens werden also auch räumlich strukturiert. Ist die Schülerin der Oberstufe im Unterricht ein Neutrum, so kann sie in der Pause in bestimmten Räumlichkeiten ganz ihre reifende Weiblichkeit zur Geltung bringen.
3. Aspekte schulischer Umwelt und deren Auswirkungen auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler
Ich will zwei weitere Möglichkeiten anführen, dem Erleben der Schulumwelt auf die Spur zu kommen. ROLAN ARBINGER und M.v. SALDERN haben 1984 ein in den USA entwickeltes Modell der Beschreibung des Problems thematisiert:
Wenn hiermit Aspekte der Schulumwelt erfaßt sind, zu der der Schüler sich verhält, dann finden hierzu auch Wertungen (etwa der architektonischen Aspekte) statt. Werte werden also reflektiert anhand von gestalteten Räumen und diese Werte als gelebte soziale Beziehungen sind über Räume vermittelt, werden räumlich erlebt.
CHRISTIAN RITTELMEYER (1987) hat einen anderen Aspekt untersucht. Er fragte nach Bedeutungsfeldern der Schulbau-Architektur. Konfrontiert mit zwei sehr verschiedenen Schulfassaden äußerten sich Schüler zur Wirkung. Heraus kam ein sogen. Polaritätenprofil, aus dem ich Ihnen einige Aussage vorstelle:
Diese Effekte sind nur zu erklären, wenn man für die Befragten bestimmte Erfahrungen annimmt, demzufolge bestimmte Räume die Gefühle verschieden ansprechen und so mögliches Verhalten selektieren. Für Schulen ist dies in bürgerlicher Zeit durchaus beabsichtigt und es ist kein Zufall, daß man sich an Kasernenarchitektur erinnert fühlt.
Zusammenfassend: Wir fragen weiter, wie räumliche Aspekte und Werte im Sinne gelebter sozialer und ideologischer Verhältnisse in der Schule zusammenhängen. Welche Formen der Selbstdarstellung sind räumlich zugelassen? Welche Formen der Gestaltung sind räumlich zugelassen? Viele Widersprüche und Kollisionen im Schulalltag (Vandalismus, Gleichgültigkeit) finden hier ihre Lösung. Und: Mit diesen Fragen setzen wir Ansprüche an die Gestaltung, d.h. wir stellen die Gegenständlichkeit der Schule in Frage aus der Absicht heraus, Räume für künftig sinnvolles Verhalten zu gestalten.
4. Differenz zwischen sachlichen und personalen Bestandteilen der Schulumwelt
Eine weitere Möglichkeit, Schulumwelt zu beschreiben, bietet der Ansatz von ALBERT MEHRABIAN (1978). Er geht davon aus, daß das Verhalten der Individuen von der Informationsrate bzw. dem Reizvolumen der Umwelt gesteuert wird. Ohne hier die problematischen Vereinfachungen dieser Konzeption zu diskutieren, ist doch interessant, daß die Schulumwelt bezüglich der Reizwirkungen auf den Schüler beschreibbar ist, MEHRABIAN verwendet folgende Kategorien:
gewiß – ungewiß
abwechslungsreich – redundant (x)
(o) komplex – einfach (x)
neuartig – vertraut (x) (o)
großdimensional – kleindimensional
(o) kontrastreich – ähnlich (x)
(o) dicht – spärlich (x)
(x) lückenhaft – kontinuierlich
ungewohnt – gewohnt (x) (o)
(o) heterogen – homogen (x)
(o) überfüllt – leer
asymmetrisch – symmetrisch (x)
(x) nah – fern
(o) bewegt – ruhig (x)
selten – gewöhnlich (x) (o)
(o) zufällig – strukturiert (x)
unwahrscheinlich – wahrscheinlich
Ich habe die heute bei uns zutreffenden Kategorien für die personalen Bestandteile mit (o) und die sachlichen Bestandteile mit (x) gekennzeichnet. Sie sehen die z.B. widersprüchliche Struktur, die sich ergibt. Mit diesen Dissonanzen einer personal dichten, sachlich/gegenständlich leeren Umwelt müssen die Schüler umgehen. Die Frage, ob dies Zufall oder Absicht der die Schule gestaltenden Kräfte ist, läßt sich mit einem Blick auf verschiedene Schultypen beantworten. Der gymnasiale Typ, charakterisiert durch Uniformen, Hierarchie, soziale Auslese, Zucht zeigt die weitgehende Angeglichenheit von personalen und sachlichen Bestandteilen. In unserer Schule ist die Differenz, wie beschrieben, besonders groß. Entsprechend schwer ist die Steuerung des Verhaltens der Schüler. Diese finden ihre eigenen Formen der Lösung dieser Widersprüche. Endlich kommen wir sicher bald auf die Frage nach einem neuen Schultyp, für den geklärt wird, welche sozialen Verhältnisse ihm eigen sein sollen: die Form der Abhängigkeit, basierend auf Macht, Herrschaft und Gewalt (und entsprechender Reaktionen der Schüler) oder die Form der Abhängigkeit, beruhend auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung, Kompetenz (Leistungsfähigkeit) und gemeinsamen Interessen, auf Kooperation und gegenseitiger Hilfe. Dementsprechend wären Reglement und Räumlichkeit zu gestalten.
Es sollte deutlich geworden sein, daß die Frage der Gestaltung von Schulumwelt primär eine Frage der Werte, der sozialen Verhältnisse, ist. Ohne Reduktionismus zu empfehlen will ich doch behaupten, daß die Frage nach einer möglichen Ästhetik der Schulumwelt nur aus der Perspektive der Ästhetik des Verhaltens in dieser Umwelt beantwortet werden kann.
5. Nachtrag: Schule als Ort in der Kommune
Für die weitere Perspektive unserer sozialistischen Schule wird es mit entscheidend sein, ob es gelingt, die Schule wieder stärker in das Leben der Kommunen zu integrieren. Das ihr ideologisch verordnetes Inseldasein auch räumlich-gegenständliche Gestalt angenommen hat, ist vielfach zu beobachten. Auch in dieser Hinsicht ist die Diskussion sehr viel weiter anzulegen. Aber das wäre ein neues Thema, einer gesamtgesellschaftlichen Erörterung würdig.
Literatur
Irrlitz, G.: Materialistische Ethik als Wertlehre.Wiss.Zeitschr. d. FSU Jena, Ges.wiss. R., 26. Jg. (1977), H. 5
Pätzolt, H.: Ideologische Gerichtetheit des Verhaltens. Forschungsbericht aus dem Inst.f.Pädag. Psychologie der APW, 1989
Peel, R.: Die Wahrnehmung von Wohnzimmern und ihrer Bewohner. Inaug.-Diss., Heidelberg 1980
Mehrabian, A.: Räume des Alltags oder wie die Umwelt unser Verhalten bestimmt. Campus-Verlag, Frankf./M. / New York 1978
Arbringer, R. u. Saldern, M.v.: Schulische Umwelt und soziales Klima in Schulklassen. Psychologie in Erziehung und Unterricht, H.2, 31. Jg., 1984
Rittelmeyer, Chr.: Bedeutungsfelder der Schulbau – Architektur. Psychologie in Erziehung und Unterricht, H. , 34, Jg., 1987