Fragen an unsere Schule

 

(veröffentlicht in: Elternhaus und Schule 3/90, S. 12 – 13)

Alle demokratischen Kräfte in der DDR sind sich heute weitge­hend darin einig, daß ein moder­nes Gemeinwesen nur eine Per­spektive hat, wenn es leistungs­orientiert, ökologisch und sozial ist, wenn es Wettbewerb und Ko­operation fördert, auf Solidarität und Individualität der in ihm le­benden Menschen beruht. Es kann daher angenommen wer­den, daß diese Charakteristika auch und gerade der Schule zu­kommen müssen, die die Kinder und Jugendlichen auf dieses Ge­meinwesen hin bilden und erzie­hen soll.

Freilich werden die genannten Begriffe von den verschiedenen politischen Kräften im Lande ver­schieden interpretiert, und die Differenzen berühren heute im­mer stärker auch die bildungspo­litischen Auseinandersetzungen. Dagegen haben Kinder und Er­wachsene in letzter Zelt gefor­dert, daß dieser notwendige Par­teienstreit nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden darf.

Dr. Harald Pätzolt scheint es geboten, einige kritische Fragen an unsere Schule aus demokrati­schem Grundverständnis heraus zu stellen.

Allgemein wird immer klarer, daß unsere Schule, dem alten Grund­satz “Nicht für die Schule, son­dern für das Leben!”  verpflichtet, die Kinder eben nicht in die Lage versetzte, den Aufgaben der Zeit verantwortungsbewußt und gebil­det entgegentreten zu können. Schule ist immer noch das irdi­sche Jammertal, das es zu durch­schreiten gilt, um zum jenseitigen Erwachsenenleben zu gelangen, welches Lohn für alle Mühen ver­spricht.

Das Leistungsprinzip kann für die Schule folgendermaßen formuliert werden: Jeder Schüler soll nach seinen individuellen Lernfähigkei­ten lernen können, und jeder Schüler soll entsprechend seiner individuellen Lernleistung bewer­tet werden.

In diesem Sinne ist unsere Schule nicht leistungsorientiert. Die Schü­ler einer Klasse werden im Grunde mit Anforderungen konfrontiert, die aus einer angenommenen durchschnittlichen Lernfähigkeit und einem durchschnittlichen Lei­stungsvermögen abgeleitet wurden. Gleiche Anforderungen für alle heißt die Maxime. Von dieser Maxime kann durch differenzierte Unterrichtsgestaltung höchstens abgewichen werden.

Wie auf der Anforderungsseite, wird auch auf der Bewertungs­seite gegen das Leistungsprinzip verstoßen. Gleiche Anforderungen für alle bei ungleichen Leistungs­voraussetzungen und gleicher Maßstab der Bewertung – das be­deutet ungleiche Behandlung der einzelnen Schüler bei der Zensie­rung.

Ein weiteres Problem, das dem Leistungsprinzip entgegensteht, ist folgendes: Jahr für Jahr bewe­gen sich die Schüler zwischen den Noten 1 bis 5. Ein- Schüler kann zehn Jahre lang in Mathematik die Note 3 bekommen. Das heißt, für ihn wird nie erkennbar, welchen Entwicklungsstand er jeweils, be­zogen auf das Endniveau Klasse 10 etwa, erreicht hat. Das Absurde dieses Verfahrens wird deutlich, wenn man einmal annehmen würde, dies gelte auch für die Werktätigen. Dann hätte ein Unge­lernter die Möglichkeit, zwischen 500 und 1 000 Mark zu verdienen, ein Facharbeiter ebenso, Men­schen mit Fach- und Hochschul­abschlüssen auch.

In der Schule sind überwiegend spezielle Fähigkeiten und Leistun­gen gefragt. Das muß auch so sein. Aber: Leistungsorientiert ist in speziellen Bereichen der Schü­ler doch nur, wenn ihn entweder die Sache selbst interessiert oder wenn er ein für ihn attraktives Äquivalent für seine Leistungen bekommt. Warum soll sich ein Schüler in einem Fach, welches ihn nicht interessiert, anstrengen? Motivation zielt immer auf den ganzen Schüler, nicht auf ein Teil von ihm, das gerade eine Mathe­matik-Aufgabe löst.

Ein Schüler erlangt durch seine Lernleistung keineswegs soziale Anerkennung in der Schule als sozialer Organisation. Höchstens in der eigenen Klasse, kaum in der Klassenstufe, gar nicht über die Klassenstufen hinweg. Denn zum einen ist für das Sozialprestige des einzelnen die bloße Zugehö­rigkeit zu einer höheren Klasse wichtiger als die Schulleistung. (Schüler X mag noch so ein As in Physik sein; der durchschnittliche Schüler Y wird, weil eine Klasse höher, ihm sozial immer überlegen sein.) Zum anderen ist heute gar kein Vergleich der Leistungen ein­zelner über die Klassenstufen hin­weg möglich. So kann es zu kei­ner Anerkennung außerhalb der eigenen Klasse kommen.

Das Prinzip der sozialen Orientie­rung der Schule könnte so formu­liert werden: Die Entwicklung der/ des einzelnen darf nicht auf Ko­sten der/des anderen gehen. Und:

Die Entwicklung der/des einzel­nen Schüler(s) ist Voraussetzung für die Entwicklung aller Schüler. Dieses Prinzip wird nicht realisiert. Vielmehr ist unsere Schule einem Prinzip verpflichtet, wonach die Entwicklung der Schüler weitge­hend parallel und unabhängig von­einander erfolgt. Die sogenannten Leistungsstarken werden in ihrer  Entwicklung gehemmt und produ­zieren permanent Gefühle der Unterforderung. Die sogenannten Leistungsschwachen hemmen die anderen und produzieren Gefühle der Überforderung. Das Tempo wird vom Mittelmaß bestimmt – auf Kosten der Schwachen wie der Starken. Und die Mittelmäßi­gen schaden sich selbst, indem sie die Möglichkeiten der Koope­ration und Arbeitsteilung im Lernprozeß mit Schwächeren und Stär­keren nicht nutzen.

Dazu kommt, daß wohl jeder Schüler irgendwann begriffen hat, es ist für die Schule vollkommen gleich, ob er eine 1 oder eine 3 als Jahresendnote hat – vorausge­setzt, die Statistik stimmt. Das heißt, seine eigene Entwicklung ist keineswegs Voraussetzung für die Entwicklung anderer. Andererseits kann man kaum be­haupten, daß Konkurrenz und äu­ßerer Leistungsdruck ein Markenzeichen unserer Schule seien.

Lehrstelle oder Studienplatz wa­ren sicher; und die Unterschiede in der Attraktivität der einzelnen angezielten Karrieren sind nicht sehr groß. Die Schule hätte daher auch keine Chance gehabt, Konkurrenzdruck  zur Leistungssteigerung zu nut­zen. Darüber hinaus ließ die so­ziale Behaglichkeit unserer klei­nen Welt kooperatives Lernen nicht als notwendig erscheinen. Kooperation erfordert zunächst Aufwand, und der lohnte sich nicht. Jedermann weiß um die Ver­geblichkeit von Lernpatenschaften oder Lerngruppen als dauerhafte Einrichtungen im Schulalltag. Sie klappen höchstens vor Prüfungen als Repetierzirkel der Mittelmäßi­gen.

Dieses Prinzip fordert die Schul­umwelt als gestaltet und gestalt­bar nach menschlichen Maßen. Fragen der funktionellen Gestal­tung der Schulumwelt (Klassen­räume, Turnhallen, Flure, WC und so weiter), bezogen auf einen be­stimmten vorgegebenen Typ des Unterrichtens (nicht des Ler­nens!), sind wohl wichtig, aber nicht die entscheidende Frage. Gleiches gilt für Probleme der Ge­staltung der physischen Bedin­gungen der Schüler und Lehrer (Raumgröße, Möbel, Licht, Tem­peratur und so weiter). Alle Verän­derungen auf diesen Gebieten bleiben wenig wirkungsvoll, wenn Schulumwelt nicht begriffen wird als Raum, der Möglichkeiten für den sozialen Verkehr von Schü­lern und Lehrern bieten muß. Schulumwelt Ist heute kritisch dar­aufhin zu betrachten, welche Mög­lichkeiten der fortwährenden Ge­staltbarkeit durch die Nutzer und der Selbstdarstellung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sie bietet. Diesbezüglich sieht un­sere Bilanz traurig aus. Schulumwelten sind nur sehr grob Altersbesonderheiten angepaßt. Gerade die Unterstufe hat spe­zielle Bedingungen, der Rest wird gleich behandelt. Geschlechtsdif­ferenzen finden in der Schule kei­nen Raum – Schüler sind ge­schlechtslose Wesen.

Sie haben kaum Möglichkeiten, ihre eigene Umwelt in der Schule zu gestalten. Schüler sind Gäste, nicht Bewohner ihrer Schule. Entscheidend aber ist: Das strenge Raum- und Zeitregime des Schulalltags verhindert na­hezu perfekt die Begegnung der Schüler während ihrer Haupttätig­keit, des Lernens, außerhalb der Klassen. Bevor einer nicht in der sechsten Klasse ist, wird er nicht erfahren, wie es dort zugeht. Schule bietet weder Raum noch Zeit für den Verkehr, den Umgang der Schüler miteinander in kleinen Gruppen oder größeren Verbän­den. Man kennt sich untereinan­der kaum, bis dann die Neugier fürs andere Geschlecht einige Barrieren durchbricht.

Auf die Konsequenzen für die Lei­stungsorientierung und die soziale Orientierung, die aus dem Mangel an sozialem Verkehr miteinander folgen, habe ich bereits hingewie­sen.

Endlich ist ein wesentlicher Punkt der, daß die Schulen, zumindest in den Städten, Nischen bilden in den Kommunen, vom kommuna­len Leben weitgehend isoliert sind. Die Möglichkeiten der Nut­zung der Schulen durch die Kom­munen sind sehr begrenzt, und dies ist durchaus nicht ohne Be­dacht so inszeniert: Drinnen wird gelernt und erzogen, draußen war­tet das Leben.

Das Prinzip der Solidarität meint zum einen die unbedingte Hilfe für Schwächere, zum anderen die Er­wartung, daß der Schwächere das seine tut. Solidarität setzt die An­erkennung der Würde des einzel­nen voraus und über alle anderen Maßstäbe.

Beide Aspekte der Solidarität sind in unserer Schule weder im Lern- ­und Leistungsbereich noch im Be­reich des sozialen Verkehrs im weiteren Sinne zu realisieren. Schon einfache Formen kooperati­ven Lernens sind kaum erkennbar. Alle Formen des Lernens, die das vorhandene Wissensgefälle nut­zen könnten, sind nur rudimentär entwickelt. (Man stelle sich nur einmal vor, wieviel Wissen bei den Schülern einer Schule angehäuft ist und wie ungleich es naturge­mäß verteilt ist!) Im streng geglie­derten sozialen System Schule, worin die einzelnen Klassen weit­gehend autonom sind, kaum hori­zontale Vernetzungen (zwischen Parallelklassen) oder vertikale Ver­netzungen (zwischen Klassenstu­fen) existieren, gibt es sozialen Austausch nicht. Man kennt sich nicht, hat weder Raum noch Zeit füreinander. Selbst auf Klassen­ebene, wo, wie beschrieben, die Stärken und Schwächen der ein­zelnen nicht systematisch ge­nutzt, sondern eher nivelliert wer­den, bleibt Solidarität die Aus­nahme.

Dazu kommt, daß Schüler und Lehrer einander fast ausschließ­lich in bestimmten Rollen begeg­nen, nicht als Individuen mit eige­ner Persönlichkeit. Für den Fach­lehrer sitzt da ein mehr oder weni­ger lernwilliger und leistungsfähi­ger Schüler seines Faches, für den Schüler steht dort der Lehrer X, nicht der Mensch X. Die Fähig­keit, sich selbst und die Schüler im Unterricht realistisch wahrzu­nehmen und einzuschätzen, ist bei den meisten Lehrern zu gering ausgebildet.

Ein Gradmesser dafür ist auch: Wie viele Schwächen darf ein Leh­rer haben und zeigen, für die er nicht nur Toleranz, sondern auch Solidarität von seinen Schülern erwarten kann?

Das Prinzip der Individualität meint, daß in der Schule die Ent­wicklung des einzelnen in seiner Ganzheit vor der Entwicklung ein­zelner Seiten aller steht.

Genau das Gegenteil ist überwie­gend die Praxis.

Entwicklung und Anerkennung von Individualität setzt einen rei­chen sozialen Verkehr miteinander voraus, setzt voraus, daß das eigene Tun, die eigene Entwicklung für die anderen bedeutsam ist und umgekehrt.

Die Isolation der Schule von der Umwelt macht, daß das Kind X in der Schule zum Schüler X wird und nur als solcher behandelt wird. Endlich macht die Art und Weise des Unterrichts, daß der einzelne die Summe der Leistungen und Noten übers Jahr und über alle Fächer wird – plus »Gesamtverhalten. Ein geschlechtsloses We­sen, dessen sonstige (»außer­schulischen«!) Leistungen und Bedürfnisse, soweit nicht »gesell­schaftlich bedeutsam”, zu ver­nachlässigen sind. Der einzelne hinterläßt in der Schule kaum Spu­ren. An jedem Arbeitsplatz finden sich mehr persönliche Dinge als am Platz eines Schülers. Und wie lange ist es eigentlich her, daß Formen des Selbstausdrucks wie Kleidung, Frisur und so weiter vor massiver Unterdrückung befreit wurden?

Das ist die Lage, im Prinzip freilich. Und daß alle Aspekte so mit­einander zusammenhängen, deu­tet darauf hin, daß hier Strukturen wirken, denen Lehrer, Eltern und Schüler in ihrem Bemühen, das Beste daraus zu machen, letzten Endes ohnmächtig gegenüberstehen. Darauf muß eine radikale Schulreform eine Antwort finden.

 


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