11 Thesen zu 25 Jahren Wende

(veröffentlicht in: Politische Berichte 8/2014, S. 23)

 

  1. Das Jahr 1989 markiert das Ende der nichtkapitalistischen Gesellschaften in Europa.
    Über Verlust und Gewinn, Schuld und Verdienst wurde seither viel gestritten. Das tritt von Jahr zu Jahr mehr zurück, zu groß sind dafür die Probleme heute, private wie öffentliche. Unbeeindruckt davon gibt es eine offizielle, hegemoniale Geschichtspolitik: Opfergedenken und Täterschmäh. Delegitimation der DDR und Apologie des Gegenwärtigen. Das kann DIE LINKE aus Gründen, die im Heute liegen nicht hinnehmen.
  2. Der Abstand ist erst heute groß genug, dass DIE LINKE die Wende 1989 nicht mehr für sich als DAS prägende Ereignis sehen kann und muss.
    Die Wende als wichtige Episode des 20. Jahrhunderts. Der vierte Systemzusammenbruch in Deutschland im 20. Jahrhundert. Zwei sind militärisch gescheitert, mit furchtbaren Kriegskatastrophen. Zwei scheiterten wirtschaftlich. Immer gab es dabei das Versagen der politischen Eliten. 
  3. Die Wende 1989 brachte uns die Erfahrung, dass ein Staat, eine hochgerüstete Macht, abrupt zusammenstürzen konnte.
    Stärker noch als der Blick allein auf die Wende 89 zeigt der auf das 20. Jahrhundert, dass dies aber nicht nur für einen sozialistischen Staat galt. Welch kurze Perioden des Wilhelminischen Kaiserreiches, der Weimarer Republik, des sogenannten Dritten Reiches und der DDR! 
  4. DIE LINKE und viele andere halten auch den Kapitalismus nicht für das letzte Wort der Geschichte.
    Gegen die Apologie und den Ewigkeitsglauben des real existierenden Kapitalismus („TINA“), der mit dem offiziellen Wendegedenken verbunden ist, setzen wir und andere das „Eine andere Welt ist möglich!“, engagieren uns antikapitalistisch und arbeiten an kleinen wie großen Lösungen für viele Probleme, versuchen das gute Leben. Aber da ist eben auch die Erfahrung des Jahrhunderts der jähen Wendungen, dass Krisen in Katastrophen, lokalen wie Menschheitskatastrophen enden können. Gesellschaften können implodieren, Staaten scheitern, nicht nur fernab, sondern hier, mitten in Europa. Auch unsere.
  5. Die Wende 1989 markiert auch eine Zeit in der wir wirtschaftlich unsicher und kulturell verunsichert leben und weiter leben werden.
    Das ist für DIE LINKE nicht akzeptabel. So wie Generationen im Nahen Osten, eine nach der andern, den Frieden nicht kennend aufwachsen, so wachsen hier in Deutschland und ganz Europa Generationen auf, die wirtschaftliche Unsicherheit in all ihren Ausprägungen und kulturelle Verunsicherung, die damit verbundenen Ängste und den Umgang damit, für den Normalzustand halten. Setzt sich das fest, sind Demokratie und Sozialstaat auf mittlere Sicht verloren. Darum gilt es, 25 Jahre nach der Wende, sich der tieferen, aus den Ereignissen des 20 Jahrhunderts wachsenden kulturellen Wurzeln und Werte unserer Gesellschaft und Europas zu versichern. 
  6. Die neoliberale Wende von europäischen sozialstaatlich-demokratischen hin zu postdemokratischen 3/3-Gesellschaften (also solchen mit einem relativ gesicherten und zufriedenem „oberen“ Drittel, einer Mitte, in der die Verunsicherung angekommen ist und einem unzufriedenem „unteren“ Drittel mit einem hohen Risiko sozialer und politischer Abkopplung) markiert einen radikalen Bruch mit der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
    Der Entwurf des Grundgesetzes einer Gesellschaft für alle Menschen als menschen (Art.1), der Freiheit und freien Entwicklung eines Jeden (Art. 2, Abs. 1) und einer integrierten Gesellschaft der Gleichen (Art. 3) entspricht nicht mehr der Realität. Und die Politik, die politischen Eliten sind heute weit davon entfernt, die Herausforderungen zunehmender Ungleichheit, der Armut, der Finanzspekulation, der ökologischen Kosten unseres guten Lebens usw. überhaupt zu erkennen und gar anzunehmen. Auch das wird nun erinnert und zwingt uns zum Handeln.
  7. Die Wende 1989 sollte für Europa das Ende des Kalten Krieges werden.
    Heute, auf Grundlage umfangreicher geschichtswissenschaftlicher Forschung wissen wir, dass der Westen, vor allem die USA, den Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses verhinderten. Die Grenze des kalten Krieges existiert noch immer, quer durch Europa, nur weiter gen Osten verschoben.
  8. 25 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR brennt es an Europas Grenzen Richtung Afrika, Osteuropa und Naher Osten.
    Die politischen Landschaften der EU-Mitgliedsländer sind im Umbruch, autoritäre Regime ersetzen postsozialistische Demokratien, rechtspopulistische und ultrarechte Parteien und Bewegungen stehen in Kernländern an den Schwellen der Macht. Gesellschaften verelenden und verlieren die zivilisierte Ordnung. Die Ruhe in Deutschland nach 25 Jahren ist trügerisch.
  9. Für DIE LINKE erwächst aus dieser Sicht auf den Herbst 1989 als einer Zeit in der Zeit, als letztes Kapitel des 20. und erstes Kapitel des 21. Jahrhunderts eine große Herausforderung.
    Sie muss dazu beitragen, dass sich die Menschen in Deutschland und Europa der eigenen Werte und kulturellen Wurzeln rückversichern und versuchen Wege aufzuzeigen, kommenden sozialen und ökologischen, gar militärischen Katastrophen zu entgehen.
  10. DIE LINKE kann, das soll der Rückblick auf das Jahr 1989 leisten, eine Partei werden, die auf das breite Unbehagen an der Postdemokratie und sozialer Ungleichheit mit Antworten auf die großen zwei Fragen reagiert: Was können wir tun? Und: Wo wollen wir hin?
    Darum stellen wir heute die Frage: „Wo kommen wir her?“ neu und anders. Nur durch einen konsequenten Bezug der Politik auf Freiheit, Würde des Menschen und Gleichheit, Solidarität, Liebe zum Nächsten und gute Nachbarschaft, auf Demokratie und den Primat der Politik, Frieden und Fairness, die Armutsproblematik und Nachhaltigkeit, kann ein Systemversagen, ein Scheitern von Staat und Gesellschaft in Deutschland und Europa verhindert werden.
  11. Der Rückblick zeigt: Alles hat seine Zeit. So darf der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass die Zeit der Unsicherheit, der Verunsicherung, der Überforderung und Verzwecklichung des Menschen, der Überbeanspruchung der Institutionen und der Hybris des Profitmachens, der Prekarisierung, von Armut und Reichtum – kurz: des kapitalismus nach dem ende des kalten krieges 1989 eine kurze sein mag.

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