Probleme der sozialpsychologischen Theorie des Kollektivs

(Vortrag auf der Weiterbildungstagung der Sektion Sozialpsychologie der Gesellschaft für Psychologie der DDR, 7. Bis 9. März 1989, Leinefelde, gemeinsam mit Dipl. Psych. Ralf Meister, Inst. f. Pädag. Psych. der APW der DDR, Bereich Entwicklungspsychologie)

 

 

Gegenstand unserer Betrachtungen ist das Kollektiv als Realität, pädagogisches Ideal, konzeptioneller Teil naiver Psychologien und sozialpsychologische Theorie.

Es gibt viele Begriffe, die in der Alltagssprache und im Alltagsdenken von Schülern und Lehrern, in der Pädagogik und der Sozialpsychologie gleichermaßen präsent sind. Vielleicht ist der Begriff des Kollektivs unter diesen noch einer der wichtigsten. Darum schien es uns notwendig zu fragen, wo denn das sozialpsychologische Konzept des Kollektivs in diesem Spannungsfeld steht und wie es sich darin bewährt.

Lassen Sie uns zunächst zwei willkürlich ausgewählte Meinungsäußerungen zum Thema voranstellen, die gleichermaßen die Auffassungen der Autoren jener Stellungnahmen dazu wie auch real erfahrene Kollektivität erkennen lassen.

 

Beginnen wir mit dem Text eines Aufsatzes, den eine Schülerin der Schule, in der auch unser Institut untergebracht ist, zum Thema: „Wir wollen ein sozialistisches Schülerkollektiv werden. Was, wie und von wem müßte etwas dazu getan werden?“ schrieb und den wir im Wortlaut wiedergeben möchten. „Es wurde uns im Unterricht ein großes Problem gestellt, zu dem wir einen Hausaufsatz schreiben sollten. Dieses Problem gibt es sicherlich auch an vielen anderen Schulen. Wir sollten uns darüber Gedanken machen, wie es zu verwirklichen ist, daß unsere Schule ein sozialistisches Schülerkollektiv wird. Am Anfang dachte ich: Naja, du schreibst, was man eben so schreibt, daß du jetzt alles dafür tun wirst, um dieses Ziel zu erreichen und daß du jetzt anderen helfen willst usw. Aber ich kann nicht das schreiben, was ich nicht denke. Also wurde aus dem Falschen das Richtige, welches folgt: Meiner Meinung nach ist ein sozialistisches Schülerkollektiv eine Gemeinschaft, in der man sich unterstützt und den anderen achtet, wo man Kritik gerecht verteilt und auch Kritik annimmt, wo man natürlich auch Selbstkritik übt, wenn sie angebracht ist. Ein sozialistisches Schülerkollektiv ist für mich eine Gruppe, in der man manchmal auch Fehler machen darf, die man mit Hilfe von Freunden auch wiedergutmachen kann. Weiterhin bedeutet es für mich freiheit, Ungebundenheit, damit meine ich, daß man z.B. auch mal Ausflüge unternimmt ohne Erwachsene. Ich will damit aber nicht sagen, daß es an unserer Schule keine Freiheit gibt. In einem Kollektiv – meine ich – muß man Erfahrungen sammeln können, es verstehen, zu richtiger Zeit die Verantwortung zu übernehmen, und vor allem muß man lernen können, die Selbstverantwortung herzustellen und damit auch zu erweitern. Das wäre für mich ein sozialistisches Schülerkollektiv. Aber – leider kann ich an jedem dieser Punkte beweisen, daß unsere Schule noch nicht so weit ist. Das kann sich ändern, wenn wirklich alle zusammenarbeiten. Aber ich möchte erst einmal anhand von Beispielen zeigen, daß noch viel getan werden muß, um ein sozialistisches Schülerkollektiv zu werden.

Das beste Beispiel ist unsere Essenpause. Ich erlebe jeden Tag, wie wir immer stehen, stehen, stehen und nochmals stehen. Nicht, weil zu viele – was sowieso der Fall ist – in der Pause essen gehen – nein. Einige drängeln vor, andere lassen vor, die nächsten hören gar nicht erst, wenn die 8. Klasse an der Tür laut „Stop!“ ruft. Nein, wieso sollten sie auch? So kommen sie doch schneller an ihr Essen. Und die anderen? Das ist das erste Hindernis auf dem Weg zum sozialistischen Schülerkollektiv – der totale Egoismus, und den abzuschaffen dürfte ziemlich schwer werden. Das ist auch ein Zeugnis der Mißachtung der anderen. Ich rede hier immer von den anderen, dabei bin ich selbst dabei. Das nächste traurige Beispiel: Sagt man zum anderen „Also, diese Bemerkung eben mußte ja nicht unbedingt sein!“, bekommt man folgende Antwort: „Was geht dich das an. Mach lieber dein Maul zu, es zieht.“ Oder so. Das ist der Beweis, daß man keine Kritik üben kann. Und damit hätte sich die Bemerkung ohne irgendwelche Einwände erledigt. Zum dritten Beispiel: Macht man einmal einen Fehler, dann wird man eher ausgelacht, als daß man Hilfe erwarten kann. Dazu gibt es zu viele Beispiele; die zu erläutern würde zu weit führen. Nur eins: Man hört mal nicht hin, gibt eine falsche Antwort, dann heißt es von seinen Mitschülern: “Bist du blöd!“.

Das letzte und wichtigste Problem ist die Selbständigkeit. Es gibt so viel in der Schule zu verbessern, aber es werden sich keine drei Schüler finden, die sich bereit erklären, was zu ändern. Und das ist die Faulheit. Sie ist auch ein Hindernis für ein Kollektiv. Ich fasse zum Schluß noch einmal zusammen:

1. der Egoismus

2. Mißachtung

3. kein Vertragen von Kritik und Hilfe

4. Faulheit.

Das alles zusammen machen die Hindernisse für das sozialistische Schülerkollektiv aus. Ich meine, daß wir keine Menschenseele zu einem sozialistischen Schülerkollektiv bringen. Denn wer wird, nur um der anderen willen, seinen Egoismus, seine Hochnäsigkeit, seine Kritiklosigkeit, seine fehlende Bereitschaft und die Faulheit überwinden?

Man möge mir meine harten Beispiele verzeihen, aber es ist so. Ich finde diese Zustände scheußlich. Und ich glaube, jetzt werde ich endlich aktiv werden.“

 

Eine ganz andere Seite des Problems der Kollektivität, die in der Öffentlichkeit diskutiert wird, thematisiert W. Reischock (1989) in einem aktuellen Artikel in der „Weltbühne“. Es gebe, so Reischock, die verbreitete Meinung, „daß man sich dem Kollektiv (oder einer bestimmten sozialen Organisation) unterordnen müsse.“ Dem liege die Vorstellung zugrunde, „das Kollektiv oder die Organisation existiere gewissermaßen außerhalb des eigenen Ich, als eine verselbständigte anonyme Macht, deren Anforderungen man zu genügen habe: durch Anpassung.“ Kollektivismus als pädagogisches Klischee. Der Sozialpsychologe merkt natürlich, daß hier Dinge reflektiert werden, die in seinen traditionellen Gegenstandsbereich fallen.

 

Sehen wir uns nun die sozialpsychologischen Stellungnahmen über einen längeren Zeitraum zum Thema Kollektiv an, so zeigen sie ein breites Spektrum von Begriffsbestimmungen und entsprechenden Konzepten. Deutlich werden (1) die Extreme, (29 der Kern der Konzepte und (3) die Vielfalt der „Zwischentöne“.

Entartung———————Gruppe————————-Ideal

    (1)                     (3)                    (2)                   (3)                   (1)

Beispiele für Extreme finden sich bei BATTEGAY (1974, S.76), der aus therapeutischem Blickwinkel die „Entartung der Gruppe zu einem (restlos) auf sich selbst zentrierten Kollektiv“ thematisiert, wie auch im Lehrbuch der Sozialpsychologie (HIEBSCH, VORWERG 1979), in „Sozialpsychologie für die Praxis“ (FRIEDRICH, VO? 1988) und nicht zuletzt im „Pädagogischen Wörterbuch“ (LAABS u.a. 1987), wo „Kollektiv“ dargestellt wird als „typische soziale Lebensform der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft, in der sich sozialistische Persönlichkeiten durch die aktive Tätigkeit in der Gemeinschaft und zum Wohle der Gesellschaft umfassend und allseitig entwickeln können…als ein sich in der Tätigkeit entwickelnder sozialer Organismus“ (S. 202f.) und „Kollektivität“ entsprechend als „Persönlichkeitseigenschaft, die sich zunächst in organisierten revolutionären Gruppierungen, massenweise als typische  Persönlichkeitseigenschaft erst im Sozialismus entwickelt, wenn die sozialen Beziehungen, die die Menschen in der Produktion miteinander eingehen, nicht mehr durch Ausbeutung gekennzeichnet sind, sondern an gesamtgesellschaftlich determinierten Wertvorstellungen und Zielen orientiert sind.“ (S. 204)

 

Auf den konzeptuellen Kern verweisen besonders die von HIEBSCH und VORWERG (1979) als unspezifisch charakterisierten Bestimmungen, aber auch Definitionen von DORSCH (1959, S. 172): „Mit Kollektivpsychologie wird dasjenige Sachgebiet der Psychologie bezeichnet, das sich mit allen Erscheinungen des Menschen als Subjekt wie als Objekt der Masse bzw. Gruppe befaßt“, oder von Mc DOUGALL (1951, 187f.): „Die Hauptaufgabe der Kollektivpsychologie besteht also darin, zu zeigen, wie die organische Gestaltung von Gesellschaften zu dem paradoxen Ergebnis kommt, daß zwar das Kollektivverhalten der nichtorganisierten Masse eine viel niedrigere Stufe der Seelentätigkeit als das individuelle Verhalten der durchschnittlichen Komponenten und damit also eine Degradierung der Individuen, aus denen die Masse sich zusammensetzt, bewirkt, das Kollektivleben einer wohlorganisierten Gesellschaft dagegen gewöhnlich geistig wie moralisch eine viel höhere Stufe erreicht, als die durchschnittlichen Glieder dieser Masse erreichen könnten, und viele Teilnehmer der Masse zu bedeutend höheren Stufen des Denkens und Handelns erhebt.“

 

Nun kann man gerade der Sozialpsychologie der DDR nicht vorwerfen, daß in ihr der Begriff des Kollektivs unbestimmt geblieben wäre. Wir haben den Versuch unternommen, ausgehend von den weitgehend identischen allgemeinen Definitionen des Kollektivs im Lehrbuch Sozialpsychologie von HIEBSCH und VORWERG (1979) und in den Arbeiten des Zentralinstituts für Jugendforschung (FRIEDRICH und MÜLLER 1983, FRIEDRICH und VOSS 1988), die wichtigsten Bestimmungen zusammenzufassen. Dazu erschien es uns hilfreich, auf einen Hinweis von Th. HERRMANN (1987) zu reagieren, demzufolge in der Psychologie vielfach von ihm sogenannte „Theorien mit Plus-X-Charakter“ kreiert wurden. Unter Theorien mit Plus-X-Charakter versteht man solche Theorien, die einen quasiautonomen Annahmekern haben, der eben durch weitere Annahmen ergänzt wird. Im Falle unseres „Kollektivs“ wäre der Annahmekern die „Gruppe“, genauer die Mikrogruppe[1]

Kollektive sind also zumeist definiert als „Gruppe plus X“:

 

So werden als formale Kriterien formelle Gruppen sowie optimale Strukturiertheit und Integration vorausgesetzt.
Als Funktionen des Kollektivs gelten die maximale Leistung für die Gesellschaft und die Persönlichkeitsentwicklung seiner Mitglieder.
Zur Abgrenzung werden des weiteren sozialistische Inhalte der Tätigkeit (gesellschaftlich wertvolle Ziele) und dito sozialistische Verhaltensnormen herangezogen.
Schließlich wird als psychologisches Merkmal das „Bewußtsein der Freiwilligkeit“ (HIEBSCH, VORWERK 1979, S.65) gesetzt.

 

Neben dem Hinweis von Th. HERRMANN auf den Plus-X-Charakter von psychologischen Theorien findet sich bei ihm als ein weiterer jener, daß solche Theorien nicht unwesentlich von einer Metaphernkontamination leben. In der Tat, zwei solche Metaphern kehren in der aktuellen Literatur häufig wieder: Zum einen die Metapher von der „Brechung“ der objektiven gesellschaftlichen Ziele, Werte, Normen, zum andern die Metapher vom „sozialen Organismus“. Besonders die erste dieser Metaphern charakterisiert die sozialpsychologische Theorie vom Kollektiv deutlich. Soweit die Ausgangspunkte der Theorie.

 

Sehen wir jetzt nach dem Gegenstand dieser Theorie. Um unsere Vermutung, die uns angesichts nun vorzustellender Empirie kam, gleich vorweg zu nehmen: Wir glauben, daß das genannte Kollektiv-Konzept zunehmend daran scheitert, daß die Gegenstände, die wirklichen Gruppen, historisch nicht mehr von jener Art sind und sein werden, daß sie mit den Mitteln der genannten Theorie in Objekte der Sozialpsychologie transformiert werden können.

Konfrontieren wir nun jene Qualitätsmerkmale mit einem gedrängten Überblick der Erfahrungen, die Schuljugendliche in formellen Gruppen wie Schulklassen und FDJ-Gruppen machen und reflektieren, in 7 Schlaglichtern.[2]

 

Erstens: Der Leistungsanspruch der Schule wurde von zwei Dritteln der Schüler akzeptiert, wenngleich auch mehr als die Hälfte der Befragten den hohen Leistungsanforderungen nicht uneingeschränkt positiv gegenüberstanden (MEIER u.a. 1983, S. 31). Daß vor allem Kinder leitender Angestellter den Leistungsanspruch der Schule akzeptieren weist darüber hinaus auf eine der Leistungsmotivation außerhalb der Schule hin.

Zweitens: Hilfsbereitschaft und Kameradschaft erlebten 72% der Oberstufenschüler in ihren Klassen, gegenseitige Kritik war jedoch lediglich bei 2/3 davon Bestandteil der Kameradschaft. Die restlichen immerhin 28% empfanden ihr „Kollektiv“ als gleichgültig, kalt und konflikthaft. Vergleichsdaten von 1977 (12%), 1979 (22%), 1980 (12%) signalisieren Schwankungen mit steigender Tendenz.

Drittens: Bereits im mittleren Schulalter bemerken Schüler Inkongruenzen zwischen eigenen Erfahrungen und Unterrichtsinhalten, was im späten Schulalter zu massiven Widerspruchserlebnissen führt. Nur 16% der Befragten aus 9. Klassen gaben Übereinstimmung von Schulwissen und eigenen sozialen Erfahrungen an, 48% dagegen keine Übereinstimmung, wobei besonders leistungsstarke Schüler (zu 58%) und – getrennt erhoben – FDJ-Funktionäre (zu 53%) sowie sogen. „nicht organisierte“ Schüler (zu 71%) Widersprüche reflektierten (ebenda S. 58).

Die sozialen Erfahrungen der Schüler werden im Unterricht kaum thematisiert – nicht von den Lehrern, aber auch nicht von den Schülern! Schüler antworten auf Lehrerfragen, stellen selbst jedoch keine.  In 274 beobachteten Unterrichtsstunden gab es nur in zweien eine Ausnahme davon (STEINER u.a. 1986).

80% der befragten Schüler beklagten global ein Klima der Einschüchterung in der Schule, auf Grund dessen man dort nicht sagen könne was man denke, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.

Damit korrespondieren auch Angaben zum Gefühl gerecht behandelt zu werden; an dieser Frage halbierte sich die Schülerschaft. Die eine Hälfte war mit der Gerechtigkeit zufrieden, die andere Hälfte fühlte sich ungerecht behandelt. Infolgedessen nimmt es auch nicht Wunder, daß der Lehrer für nur 16% der Schüler geachteter Erzieher, Vertrauensperson oder ein allgemeines Vorbild ist (MEIER u.a. 1983, S.44).

Viertens: Genau die Hälfte der Schüler sah sich in der Schule „in einer untergeordneten, von den Praktiken des Lahrers abhängigen Position…, aus der heraus kein Widerspruch geduldet werde und auf Forderungen und Entscheidungen der Lehrer kein Einfluß ausgeübt werden könne“ (ebenda, S. 41).

Die Vermittlung innerhalb der Schule geltender Verhaltensnormen  soll deren Aneignung und Akzeptanz hervorrufen. Eine für beide Ziele hinderliche Bedingung ist die mangelnde Mitwirkung der Schüler an Entscheidungen über das innerschulische Reglement und die Darstellung der Normen als unantastbar.

Entsprechende Folgen sind pflicht- und zwangsmotivierte formale Anpassungen an Normen einerseits und andererseits verdeckte wie offene Normübertretungen. Und schließlich führen Formalismus und Routine sowohl in den Disziplinierungspraktiken als auch in Leistungsanforderungen und –Bewertungen darüber hinaus zu einer zunehmenden Distanzierung gegenüber gesellschaftlich geforderten Normen generell.

Fünftens: In einer retrospektiven Betrachtung gaben Lehrlinge und EOS-Schüler an, die Schule (POS) habe sie vorbereitet auf Pünktlichkeit, Ordnung und Disziplin (von Mädchen übrigens häufiger genannt als von Jungen); lediglich 62% von ihnen gaben an, auch auf Verantwortungsübernahme und nur 58% auf politische Urteilsfähigkeit vorbereitet worden zu sein – bei EOS-Schülern nur von 54% angegeben (STEINER u.a. 1986).

Sechstens: In fast nahtlosem Übergang zur FDJ-Gruppe: Fast die Hälfte der Jugendlichen verwies darauf, daß die FDJ an der Schule nur eine formale Rolle spiele, daß es keine echte Verantwortung gebe und FDJler weitgehend nur nach vorgegebenen Handlungsmustern tätig werden könnten. Die erlebte „Blockierung sozialer Aktivität“ zeigte sich als „Tendenz bequemen Abfindens und Unterordnens“ gegenüber unverständlichen und uneinsichtigen Aufgaben, aber auch in einer „Anpassung aktiver Schüler an ein zurückbleibendes Kollektiv“ (MEIER u.a. S. 42f.).

Befragungsergebnisse belegen, daß zum einen die FDJ-Organisation als Forum für kritische Auseinandersetzung an Bedeutung verlor und zum anderen eine steigende Anzahl von Jugendlichen auf Kritik überhaupt verzichtete, weil sie Schwierigkeiten befürchtete (ebenda, S. 98).

 

1977 1979 1983
Sachliche Kritik am Schulleben in der FDJ äußern

52%

42%

36%

Kritik lieber nicht äußern, weil Schwierigkeiten entstehen könnten 14% 17%

27%

Siebentens: Zuletzt, weil etwas abgehoben: Der in der Jugendforschung erhobene Wert „Ich-Vervollkommnung“ als Lebensziel weist im Generationenvergleich eine fallende Tendenz auf. Aus der „Sozialen Psychologie älterer Schüler“ (FRIEDRICH und MÜLLER 1983, S. 61) sei erinnert: 1958 war für 28% der Jungen und für 25% der Mädchen, 1978 nur noch für 10% der Jungen und für 5% der Mädchen die Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit ein Lebensziel.

 

Allen sieben empirischen Schlaglichtern gemeinsam sind die Indizien für eine reale Entfernung der formellen Gruppen (Klassen, Pionier- und FDJ-Gruppen) in der Schule vom Ideal des Kollektivs.

Vergleicht man das Kriterium „Persönlichkeitsentwicklung“  mit dem Absinken bei „Selbstvervollkommnung“, die „Orientierung auf maximale Leistung“ mit der geringen Akzeptanz des schulischen Leistungsanspruchs und schließlich, um nur die drei zu nennen, das Merkmal „Sozialistische Inhalte“ mit dem Ignorieren sozialer Erfahrungen der Schüler und seinen Folgen, dann scheint es so, als führte die Entwicklung vom drart definierten Kollektiv weg – es erscheint ein Negativ-Bild.

 

Das wiederum legt zwei Vermutungen nahe:

Je weiter das reale Kollektiv von den Kriterien der Definition entfernt ist, umso weniger greift das Konzept und sind
die positiven Entwicklungstendenzen mit jenem Konzept nicht zu entdecken und sichtbar zu machen.

 

In Ermangelung einer Theorie, die den Zusammenhang von formationsspezifischen Qualitätsparametern und Gruppenkonzepten herstellt, schlagen wir als ersten Schritt – unter Beibehaltung des „Gruppe-Plus-X-Charakters“ – eine Re-Formulierung der Kollektiv-Bestimmungen vor:
Der Geltungsbereich müßte sich auf formelle wie informelle Gruppen erstrecken, in denen
die Mitglieder ihre Interessen realisieren, die übers Mesosystem (Gruppe) bis ins Exosytem (Organisation) und Makrosystem (Gesellschaft) reichen (FRINDTE, SCHWARZ u.a. 1989), also individuelle, gruppenspezifische, organisationsspezifische, gesellschaftliche wie auch allgemeine menschliche Interessen umfassen,
deren Tätigkeit einen humanistischen Inhalt hat und deren Verhaltensweisen humanistischen Normen entsprechen. D.h. der Sozialpsychologe kann sich nicht mehr allein auf einen ehernen Kodex objektiver gesellschaftlicher Ziele, Normen und Werte beziehen, sondern müßte jeweils konkret erkunden, was an dieser Gruppentätigkeit humanistische Inhalte und Normen sind,
Die als Individuen wie als Gruppe lernfähig sind und
deren Zusammenschluß auf Freiheit und Freiwilligkeit beruht.

 

Mit diesem Rahmen wäre auch der Anschluß herstellbar zu aktuellen Entwicklungen zur Organisationspsychologie und Sozialpsychologie der Gruppenentwicklung, die zur Zeit in der DDR zu bemerken sind.

 

Literatur

 

Battegay, R.: Der Mensch in der Gruppe. Bern/Stuttgart/Wien 1974

Dorsch, F.: Psychologisches Wörterbuch. Bern 1959

Friedrich, W. u. H. Müller (Hrsg.): Soziale Psychologie älterer Schüler. Berlin 1983

Friedrich, W. u. P. Voß (Hrsg.): Sozialpsychologie für die Praxis. Berlin 1988

Frindte, W., H. Schwarz u. F. Roth: Selbst- und Fremdorganisation in sozialen Systemen – ein neuer sozialpsychologischer Ansatz. Manuskriptdruck, FSU Jena 1989 (Forschungsergebnisse G/89/1-3)

Herrmann, Th.: Mechanismen, Felder und Systeme. Zu Wolfgang Köhlers Stellung in der Psychologiegeschichte. „Psychologische Rundschau“ 4/87

Hiebsch, H. u. M. Vorwerg (Hrsg.): Sozialpsychologie. Berlin 1979

Laabs, H.-J. u.a. (Hrsg.): Pädagogisches Wörterbuch. Berlin 1987

Meier, A. u.a.: Soziale Erfahrungen der Schuljugend in ihrer Bedeutung für deren Bewußtseinsentwicklung und Erziehung. (unveröff. Forschungsbericht APW, Berlin 1983)

Mc Dougall, W.: Psychologie. München 1951

Reischock, W.: Individualität und Gesellschaft. „Weltbühne“ 9/1989 (28. Febr. 1989)

Steiner, I. u.a.: Soziale Aktivität und Mobilität der lernenden Jugend unter den Bedingungen der 80er Jahre. (unveröff. Forschungsbericht APW Berlin 1986)
[1] Mikrogruppen sind nach VOSS (1988, S. 238ff.) „aus sozialpsychologischer Sicht Sozialgebilde, in denen über längere Zeit eine direkte interpersonale Kommunikation stattfindet. …Unter formellen Gruppen werden solche Gruppen verstanden, die im Interesse der Gesellschaft und durch die Gesellschaft gebildet werden, die bestimmte gesellschaftliche Zielstellungen verfolgen, bestimmte Aufgaben in arbeitsteiliger Kooperation bewältigen müssen und deshalb ganz bestimmte (formelle) Strukturen vorgegeben bekommen.“
[2] Die Daten entstammen überwiegend soziologischen Erhebungen der APW an ca. 800 Schülern 9. Klassen einer Mittelstadt von 1983 und 1986.


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