(In: Weltanschauung, Wissenssynthese, Erkenntnisfortschritt. 2. Jenaer Arbeitstagung zu philosophischen Aspekten der Einheit naturwissenschaftlicher Erkenntnis, 1988. FSU Jena, 1989, S. 327 – 333)
Es gibt Probleme in den Wissenschaften, die gar keine sind und alle Mühen und Kontroversen um sie sind vergebens. MAX PLANCK hatte diesen „Scheinproblemen der Wissenschaft“ seinerzeit einen Vortrag gewidmet.1 Das Problem aber, worum es in der seit Anfang der achtziger Jahre laufenden Diskussion von Entwicklungspsychologen der DDR, aber auch des Auslandes geht, gehört nicht zur Klasse der Scheinprobleme. Es gibt gute theoretische als auch praktische Gründe, über die Wege zur horizontalen Untergliederung der psychischen Entwicklung nachzudenken und zu streiten.
In dieser Diskussion wurden von Anfang an sehr unterschiedliche Standpunkte vertreten. Werden die Kriterien der horizontalen Untergliederung (im Folgenden: Periodisierung als Synonym) der psychischen Entwicklung durch die Entwicklungspsychologie selbst gefunden und bestimmt oder werden sie der Entwicklungspsychologie in irgendeiner Weise vorgegeben, vorausgesetzt?
Faszinierend war, wie die Beteiligten an dieser Kontroverse einander näher kamen, sich einig wähnten und dann doch wieder in Polaritäten redeten. Die „Perspektivübernahme“ machte also Schwierigkeiten. Was war der Grund dafür? Was war das für– eine eigene wissenschaftliche Haut“, aus der man so schwer herauskam? Daß die beteiligten Psychologen verschiedene Strategien der Periodisierung hatten und erfolgreich praktizierten, war allseits bekannt. Aber sollten vielleicht auch unterschiedliche Paradigmen die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Strategie bestimmen? Was waren das für Paradigmen? Das war die Frage, die mich veranlaßt hatte, im Mai dieses Jahres die Professoren A. KOSSAKOWSKI (Berlin), D. J. FELDSTEIN (Moskau), H. NICKEL (Düsseldorf) und als Gesprächsleiter H.-D. SCHMIDT (Berlin) in Neubrandenburg zu einem Rundtischgespräch zu bitten.
„Periodisierung von oben oder Periodisierung von unten“ – das war die Frage. Die Metapher hat sich in der Geschichte der Psychologie schon einmal als hilfreich erwiesen. WILHELM WUNDT hatte die aus dem Streit um die Reichsgründung in der Zeit von 1849 – 1871 stammende Formel von der „Revolution von oben oder von unten“ aufgegriffen und im Streit um das Verhältnis der Philosophie zur naturwissenschaftlichen Psychologie die Metapher– „Philosophie von oben oder von unten“ benutzt, um die Frage zu klären: Wird die Philosophie von der Wissenschaft selbst begründet und in ihrem Dienste stehen oder wird sie wieder über die Wissenschaften gesetzt und diese behindern?2 .
H.-D. Schmidt hat unsere Metapher so interpretiert:
„Entscheidet man sich bei der Periodisierung sozusagen für das Ganze, dies ins Blickfeld zu rücken? Geht das überhaupt? Oder muß man nicht mindestens anfangen bei Details? … Also bei einzelnen Verhaltenssystemen und dann zu einer Integration kommen?“ 3
Mir scheint es sinnvoll, in einigen Punkten die Fragestellung zu rekonstruieren.
- In der Humanontogenese gibt es eine große Vielzahl und Vielfalt von Regularitäten. Die Humanwissenschaften, die sich mit Entwicklung explizite befassen, interessieren sich zum einen für die Beschreibung von Entwicklungsverläufen i.S. von Sequenzregeln. Zum anderen geht es um die Aufdeckung der Bedingtheit und Determiniertheit der Entwicklungsprozesse. Endlich interessiert man sich für den Zusammenhang der beiden Sachverhalte und damit auch für die Periodizität von EntWicklung.4
- An der Aufklärung der Komplexität der Humanontogenese sind viele Wissenschaften beteiligt. Schon deshalb sind Bemühungen um Integration von Wissen beständige Notwendigkeit.
- Über den Prozeß der Selbstorganisation der biopsychosozialen Einheit Mensch in der Ontogenese, die Gesetze, die diesen Prozeß beherrschen, wissen wir noch recht wenig. Trotz des rasanten Erkenntniszuwachses stehen wir heute noch, wie der Kinderpsychologe und W. Preyer vor rund 100 Jahren, staunend vor dem Phänomen menschlichen Werdens.5
- Nimmt sich die Entwicklungspsychologie der sie interessierenden Regularitäten an und befaßt sie sich speziell mit der Periodizität psychischer Entwicklung, dann können wir zweierlei Vorgänge der Periodisierung voneinander unterscheiden. Die allgemeine Tatsache der Periodizität psychischer Entwicklung voraussetzend versucht Entwicklungspsychologie mit ihren spezifischen Methoden diese Regularitäten abzubilden, von der Gegenstandsebene auf die Modell- und endlich Theorieebene zu bringen: Das will ich den Vorgang der theoretischen Periodisierung nennen. Zum anderen greift die Gesellschaft vielfach gestaltend in den Prozeß der Humanontogenese ein. Mit der Festsetzung von Bildungsstufen etwa sorgt man für eine horizontale Untergliederung menschlicher Lebensläufe. Dies nenne ich den Vorgang der praktischen Periodisierung. Beide Vorgänge unterscheiden sich zunächst dadurch voneinander, daß die theoretische Periodisierung keinerlei unmittelbare Folgen für die Biographie der betreffenden untersuchten Individuen hat. Bei der Periodisierung ist gerade dies die erklärte Absicht. Beide Vorgänge setzen sich wechselseitig voraus. Die Diskussion geht immer um die Strategien theoretischer Periodisierung im Zusammenhang mit denen der praktischen Periodisierung.
- Nun ist erkennbar, wo die Differenz zwischen den Diskutanten liegt: Der Standpunkt „Periodisierung von unten“ ist eher dem naturwissenschaftlichen Herangehen verpflichtet. Gefragt wird primär nach der Periodizität der psychischen Entwicklung, wie sie am Individuum selbst ablesbar ist geschlossen wird von daher auf die Bedeutung gesellschaftlich gesetzter Zäsuren und Anforderungen. „Periodisierung von oben“ geht eher, nach dem Vorbild gesellschaftswissenschaftlicher Forschung vor. Man geht vom Vorgang der praktischen Periodisierung aus und fragt nach den individual- wie populationsspezifischen Effekten, etwa von Übergängen zwischen Bildungsstufen oder von der Kinderkrippe in den Kindergarten auf der Ebene der psychischen Entwicklung.
- Im Grunde ergibt sich eine gegenläufige Schrittfolge in der Forschungslogik beider Positionen. „Periodisierung von unten“ muß an einzelnen Prozessen, Verhaltenssystemen ansetzen und wird schrittweise die Komplexität erhöhen – bis zur Ebene der Persönlichkeit.
„Periodisierung von oben“ wird notwendigerweise auf allgemeiner Ebene beginnen und die Komplexität schrittweise reduzieren – bis hin zu einzelnen Verhaltenssystemen.
Versuchen wir, das Problem für die philosophische Diskussion aufzubereiten. Beide Strategien gehen vom gleichen Realobjekt, wirklichen Populationen von Individuen und deren psychischer Entwicklung, aus. Der Unterschied beginnt bei der Auswahl von Bestimmungen, die in die Definition des Theoriegegenstandes eingehen.“ Ausgehend vom Realobjekt eliminiert das Denken alle Bestimmungen, die bezogen auf eine klar abgegrenzte Funktion nicht von unmittelbarer Bedeutung sind.“6
Zur Selektion der Bestimmungen, die in die Definition des Theoriegegenstandes eingehen, werden zweierlei Kriterien benutzt. Das sind einerseits Kriterien der praktischen Periodisierung und andererseits Kriterien der theoretischen Periodisierung. Beide Strategien tun dies auf sehr verschiedene Weise. „Periodisierung von oben“ definiert ihren Theoriegegenstand primär durch Bestimmungen außerpsychischer Art, die dem Prozeß praktischer Periodisierung entnommen sind.
Das sind beispielsweise Bestimmungen wie Subjektposition und gesellschaftliche Bedingungen, Tätigkeitssystem und Lebensweise oder die sozialen Beziehungen von Kindern und Jugendlichen. Der Theoriegegenstand bleibt immer das Individuum auf der Ebene der Persönlichkeit. Im Weiteren geht es dann in der Forschung um die schrittweise Einbeziehung psychischer Bestimmungen (wobei dann auf Selektionskriterien für innerpsychische Bestimmungen zurückgegriffen wird). Solche psychischen Bestimmungen sind etwa das Niveau der psychischen Regulation von Tätigkeiten, Selbstbewußtsein oder soziale Kompetenz.
„Periodisierung von unten“ definiert ihren Theoriegegenstand primär durch. Bestimmungen innerpsychischer Art. Der Theoriegegenstand sind einzelne Verhaltenssysteme, psychische Systeme oder Prozesse. Beispiele sind: Sensomotorik, Perzeption oder Kognition. Die Selektionskriterien sind der theoretischen Periodisierung, also der psychologischen Theorie entnommen. Im Forschungsprozeß geht es um die endgültige Erklärung dieser in die Definition eingegangenen Bestimmungen. Darüber hinaus versucht man dann, zu komplexeren psychischen Strukturen vorzudringen.
Nun ist klar, daß die Einheit des Realobjekts auf der Theorieebene der Entwicklungspsychologie nicht von der community der einen noch der anderen Entwicklungspsychologen allein geleistet werden kann. Das kann nur das Ergebnis der wissenschaftlichen Kommunikation und Kooperation der Forscher beider Richtungen sein. Philosophie setzt dabei im Sinne der Thesen zu dieser Arbeitstagung an beiden Klassen von Selektionskriterien ein.
- Die Verständigung über die außerpsychischen Bestimmungen des Realobjekts, die in die Definition des Theoriegegenstandes explizite oder implizite eingehen, ist ein Prozeß, der den Faktor des Weltbildes i.S. von These 2.3. betrifft. 7
- Die Verständigung über die innerpsychischen Bestimmungen des Realobjekts, die in die Definition des Theoriegegenstandes eingehen, ist ein Prozeß, der den Faktor der Methodologie betrifft. Ohne Einheit des Weltbildes einerseits und Einheit der Methodologie entwicklungspsychologischer Forschung andererseits können divergente Denkstile, bezüglich der Einheit der Wissenschaftsdisziplin contraproduktiv werden.
Arbeit am Weltbild und an der Methodologie ist also auch im beschriebenen Fall dem Fachwissenschaftler unverzichtbar. Wissenschaftliche Kommunikation ist einerseits eine gute Möglichkeit der Sensibilisierung für ‚philosophische Probleme, andererseits eine, wenn auch nicht alleinseligmachende Form der Erarbeitung der Einheit wissenschaftlichen Erkennens in der Entwicklungspsychologie.
Anmerkungen:
1 Planck, M., Scheinprobleme der Wissenschaft, Leipzig 1952.
2 Pätzolt, H., Einige philosophische Aspekte der Entstehungsgeschichte der modernen naturwissenschaftlichen Psychologie im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Diss. (A), Berlin 1983; Humboldt-Universität zu Berlin (unveröff.).
3 Protokoll des Rundtischgesprächs in Neubrandenburg, Mai 1988, unveröff.
4 Schmidt, H.-D., Voraussetzungen und Kriterien entwicklungspsychologischer Periodisierungen. In: Symposium „Wechselbeziehungen Individuum-Umwelt und psychische Entwicklung der Persönlichkeit in der Ontogenese“. Ausgewählte Beiträge, Berlin 1985.
5 Preyer, W., Psychogenesis. In: Naturwissenschaftliche Tatsachen und Probleme, Berlin 1880, S. 237.
6 Jeagle, OP., Roubaud, P., Von wissenschaftlichen Konzepten zu philosophischen Kategorien. In: Dialektik 12, Köln 1986, S. 135.
7 Thesen zur Arbeitstagung „Weltanschauung – Wissenssynthese – Erkenntnisfortschritt“, S.8.
Verfasser:
Dr. Harald Pätzolt, Institut für Pädagogische Psychologie der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR.
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