Abschied von der Kanzlerin der liberalen Demokratie

(Veröffentlicht in: Politische Berichte 11/2018, S. 5)

Angela Merkel war die Kanzlerin der liberalen Demokratie der letzten zwei Jahrzehnte. Ihr Stil, oft beschrieben mit Begriffen wie „Aussitzen“, „Durchwursteln“, „Für-jeden-etwas“-Rhetorik (fr-online, 30.Oktober 2018) entsprach, unter stabilen äußeren Umständen, dem breiten Bedürfnis, die ausdifferenzierten Interessen sozialer Gruppen und Individuen gepflegt auszuhandeln. „Die Mitte“ war der Hut, unter dem sich alle daran Beteiligten versammelten. Und das war eine Zweidrittelmehrheit der Gesellschaft.

Man muss sich daran erinnern, dass Angela Merkel Helmut Kohl im Amt beerbte. Kohl hatte seine Sternstunde mit der sogenannten Wende 1989, die nach Jahren wieder ein „nationales“ Interesse, ein Allgemeininteresse, nämlich die Einheit Deutschlands, hervorbrachte, welches gegen äußere Widerstände durchzusetzen war. Das erledigte der Alte unter deutscher Flagge gut mehrheitsdemokratisch autoritär, den Weg zurück in die Moderation der neu entstandenen innerdeutschen Interessenlagen fand er nicht mehr, es schlug die Stunde seines „Mädchens“.

Es war nun nicht so, dass Angela Merkel zu vergleichbar mehrheitsdemokratisch autoritärem Handeln gänzlich unfähig oder unwillig gewesen wäre. Mindestens zweimal konstituierte sich ein deutsches Allgemeininteresse, welches man ohne Beigeschmack als national bezeichnen könnte: Nach Fukushima exekutierte die Kanzlerin den Atomausstieg und das tödliche Ende des Fluges MH 17 gab den Anlass zu einer Wende in der deutschen Russlandpolitik. Wobei man links sein muss, um zu behaupten, dass im ersten Fall Merkel gut daran tat, im zweiten Fall ganz und gar nicht.

Aber nun haben die großen Umbrüche in der Wirtschafts- und Arbeitswelt, Klimawandel, Finanzkrise und Eurokrise, Kriege und so weiter mit ihren Folgen, Migrationsbewegungen, kollektive Zukunfts- und Abstiegsängste, Massenproteste, zu neuen Konfliktlinien geführt, entlang derer alte Allgemeininteressen neu hervortreten. Die dürften aber mit dem gewohnten Modus liberaler Demokratie, den wir in Deutschland gewohnt waren, nicht mehr zu verhandeln sein. Globale Interessen, Menschheitsinteressen, Umwelt, Wohlstand, Menschenrechte und Frieden lassen sich heute kaum mehr international, wohl eher transnational durchsetzen.

An diesem Punkt also war und ist die Kanzlerin und sind die sogenannten Volksparteien aktuell nicht mehr vertrauenswürdig. Keine der genannten Fragen nahmen sie in den Blick. Wohl verkörpern sie in sich jeweils die großen Konfliktlinien oder, mit den Worten Heribert Prantls, die zwei Zeitgeiste: Zeitgeist I sei einer, der Abschließung und Ausschluss propagiere. Zeitgeist II propagiere Aufgeschlossenheit und Öffnung. Beide stünden für die gespaltene Mentalität unseres Zeitalters.

Die alte Mitte also ist perdu, die Versuchung, Massenloyalität (Peter Brückner) mehrheitsdemokratisch und als autoritär zu generieren, gerade für die CDU groß. Wird sie ihr widerstehen?

 


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