Brauchen wir eine Reservengesellschaft?

(Veröffentlicht in: Politische Berichte 03/2020, S. 26f.)

Die Corona-Krise hat weltweit eine nicht so neue Frage akut ins Bewusstsein von Milliarden Menschen gerückt: Die Frage nach der Produktion, dem Angebot, der Verfügbarkeit von lebenswichtigen Dienstleistungen und Gütern in Krisenzeiten. Zuallererst natürlich betrifft das den Gesundheitssektor selbst. Die Zahl der kurzfristig verfügbaren Krankenhausbetten, der notwendigen Medizintechnik, hier der Beatmungsgeräte. Das einsetzbare medizinische Personal. Medikamente und Schutzausrüstungen für dieses und für die breite Bevölkerung. Es zeigte sich, von Land zu Land und von Region zu Region unterschiedlich, ein genereller Mangel. Ein gewissermaßen sekundärer Effekt zeigte sich in den sogenannten Hamsterkäufen von Toilettenpapier in Deutschland, von diversen Waren in anderen Ländern. Auch lassen sich unübliche Formen der Bevorratung mit Grundnahrungsmitteln beobachten, wie man sie aus Zeiten krisenhafter politischer Zuspitzungen während des Kalten Krieges bereits kennt.

Man muss weder volks- noch betriebswirtschaftlich besonders qualifiziert sein, um naheliegende Ursachen des allgemeinen Mangels dieser Art zu sehen. Die globale Organisation der Produktion und Distribution, globale Produktions- und Lieferketten. Damit verbundene Monopole. Just-In-Time-Produktion ohne Lagerung. Hinzu kommt die profitorientierte Reduktion jeglicher Überkapazitäten, soweit sie nicht technisch zwingend geboten ist. Ein immer wiederkehrender Argumentationszusammenhang gerade im Kontext der Gesundheitswirtschaft: Überkapazitäten, Unwirtschaftlichkeit und Fehlplanung. Auf diese Weise stehen weder nötige Produkte und Dienstleistungen noch entsprechende Erzeugungsmöglichkeiten, Knowhow, Material, Personal und Technik, zur temporären Eigenversorgung in der Krise zur Verfügung.

Dabei kennen unsere europäischen Gesellschaften durchaus effektive Antworten auf die Möglichkeit vorhersehbarer, aber weder zeitlich noch konditional klar bestimmbarer Lagen. Es gibt gigantische Reservelager für allerlei, staatlich für erforderlich gehaltene Dinge, Lebensmittel, Öl und Gas usw. Der militärische Sektor kennt die Bevorratung von Gerät und Munition und hat eine Personalreserve (Reservisten), ein jahrhundertealtes Verfahren der Mobilisierung im Kriegsfall. Lokal, doch flächendeckend, sind die Freiwilligen Feuerwehren zu nennen. Das Blutspendewesen ist ein solcher gesellschaftlicher Mechanismus dynamischen Reagierens auf Lagen unterschiedlicher Bedarfe.

Man könnte die mit dieser episodischen Aufzählung verbundenen Fragen systemtheoretisch, mathematisch, technisch oder soziologisch, ja, auch psychologisch diskutieren. Ein Gespräch mit der Evolutionsbiologie wäre sicher nützlich, haben wir doch die Tatsache der funktionellen Überkapazitäten bei vielen biologischen Objekten zu verstehen gelernt. Die Natur regelt das über die Verteilung von Samen, über den Erhalt der notwendigen Größe von Populationen, die Überkapazität des menschlichen Gehirns lernt jedes Kind im Schulunterricht kennen (wenn auch nicht nutzen).

Marxistisch Geschulte erinnern sich an den Marxschen Begriff der industriellen Reservearmee, mit dem das Kapital einerseits Lohndrückerei ermöglicht, andererseits die Reserve für eine sprunghafte Ausdehnung der Akkumulation schafft.

Bemerkenswert scheinen mir die vielfältigen Reaktionsweisen von Institutionen und Personen heute auf die Corona-Krise und den erlebten oder auch nur antizipierten Mangel. Es wird genäht und es werden Lebensmittel gebracht. Es wird eine systematische Bevorratung massenhaft praktiziert, Lagern wird eine ernst genommene Herausforderung für Familien. Nicht nur wird hier erinnert, dass es in den Altbauwohnungen vielfach sogen. Vorratskammern hatte, im heutigen Baugeschehen höchstens im gehobenen Segment für Schuhe und Kleidung realisiert. Machten bis vor Corona höchsten die Ökofuzzis Lebensmittel haltbar, so ist das aktuell ein Thema auch jenseits dieser Milieus, genau wie ein Aufwuchs des Trends hin zur kleinen Eigenproduktion von Obst und Gemüse.

Politisch wie administrativ beobachtet man das Sondieren der jeweilig optimalen Ebene des Agierens und Reagierens, der Normen- und Regelsetzungen. Die nationale und regionale Ebene scheint neue Relevanz zu bekommen – Politik gewinnt hier längst auf Dauer verlorene Legitimität zurück.

Abschließend will ich den unmittelbaren Anlass für diese Notiz kurz nennen. Mir kam der Gedanke, dass die alte gewerkschaftliche Forderung nach Arbeitszeitverkürzung (mit vollem Lohnausgleich, wie auch Linke es fordern), eine breite Akzeptanz finden könnte nach der Erfahrung der Corona-Krise. Wenigstens für bestimmte Sektoren, die heute als „systemrelevant“ attribuiert werden, könnten damit personelle Reserven für den Krisenfall geschaffen werden. Wer sechs Stunden regulär in der Pflege oder im Krankenhaus arbeitet, könnte temporär dann länger arbeiten.

Mir fiel auf, dass dies nie ein Argument war. Familie und Beruf, Gesundheit, Pflege Angehöriger, Ehrenamt wurden als in frei werdender Zeit sinnvolle Beschäftigungen genannt, von der Linken auch, in guter Marxscher Tradition, dass „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Marx, Engels 1846, S. 33). Auch dachte ich, dass die Schulen allgemeine Kompetenzen zum Verhalten in Krisen unterrichten sollten, dazu die LehrerInnenausbildung heute bereits ausgerichtet werden müsste. Es scheint mir, dass die wirtschaftspolitischen Forderungen der Linken diesen Fragen, die den unmittelbaren Prozess der Organisation der Produktion und Distribution berühren, wenig Interesse entgegenbringen.

Das soll erst einmal genügen, mich würde interessieren, ob sich darüber auch aus anderer Sicht ein Gespräch zu beginnen lohnen könnte.


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