(Veröffentlicht in: Ganztägige Bildung und Erziehung (GBE), Heft 5/1989, S. 122 – 126)
Anknüpfend an den Beitrag im Heft 4/1989 der „GBE“, in dem einige persönlichkeitsfördernde Aspekte des Spiels beleuchtet wurden/1/, sollen die folgenden Ausführungen verdeutlichen, wie wichtig es ist, die Bedeutung alter Bedingungen zu kennen, zu bewerten und für die pädagogische Arbeit wirksam zu nutzen.
Für die Entfaltung des Spiels ist die Gestaltung des Alltags der Kinder, in den sie hineingeboren wurden, der aber auch für sie geschaffen wurde, eine grundlegende Voraussetzung. Vom Kleinstkindalter an lernen sie mit Hilfe der Erwachsenen, sich in ihrer Umwelt richtig zu bewegen, weiche Orte zum Spielen geeignet sind (Spielplätze, Kinderzimmer, Spielzimmer usw.) und wo Spielen Gefahren in sich birgt (öffentliche Verkehrsmittel, Straßenverkehr usw.).
Sie lernen aber auch, sich zeitlich zu orientieren, also bestimmte Tagesabschnitte einzuhalten, sowie die Bedeutung von Personen und Gegenständen. Zu einem großen Teil vollzieht sich dieser Lernprozeß der Kinder in den Vorschuleinrichtungen und nach dem Schuleintritt im Hort. Das ist ein großer Vorteil, weil dadurch gute Möglichkeiten bestehen, den Alltag unter Beachtung pädagogischer und psychologischer Erkenntnisse im Interesse der Kinder zu gestalten. Was sind nun die wichtigsten Gestaltungsfelder?
Ich will sie in einer Art „Koordinatensystem“ kurz vorstellen. Die „Koordinaten“ sind: das Zeitregime der Kinder, die Ordnung kindlicher Verhaltensräume und das System der Bedeutungen der Gegenstände und Personen, mit denen die Kinder umgehen. Dieser bildhafte Vergleich gestattet es mir, zu verdeutlichen, daß die genannten Bereiche immer in Verbindung miteinander bzw. in Überschneidung wirken.
Das Zeitregime der Kinder
Übergänge, wie der Übergang der Kinder aus dem Kindergarten in die Schule, stellen besonders hohe Anforderungen an das Anpassungsvermögen der Kinder./2, S. 204ff./ Das Zeitbudget ändert sich. Das heißt, die für die nun in der Schule zu realisierenden Tätigkeiten zur Verfügung stehenden Zeiten sind andere als im Kindergarten. Aber auch der ganze zeitliche Tagesablauf unterscheidet sich von dem bisherigen. Besonders in Klasse 1 stellt das die Lehrerinnen und Erzieherinnen vor die Aufgabe, das neue Reglement für alle Kinder sinnvoll zu planen und durchzusetzen. Dabei ist unbedingt zu berücksichtigen, daß die Schulanfänger schon, recht differenzierte äußere und innere Zeitregulationen besitzen. Das, beginnt damit, daß die einzelnen Kinder biotisch bestimmte Unterschiede ihrer Zeitregulation, ihrer zeitlichen Rhythmen, aufweisen (jeder kennt die Langschläfer, die Frühaufsteher). Zu den Unterschieden der biotischen Grundlagen kommen die unterschiedlichsten Erfahrungen und Gewohnheiten im Umgang mit der Zeit hinzu. Schon daraus ergeben sich unterschiedliche Anforderungen an die einzelnen Kinder in der Familie, im Unterricht und am Nachmittag im Hort. So z. B. sind die Weckzeiten, die für die Wege benötigten Zeiten verschieden. Unterschied-. lieh sind. auch die Tempi, an die die Kinder bei der Erledigung der verschiedensten Tätigkeiten gewöhnt sind. In mancher Familie herrscht früh Hast vor, in anderen nimmt man sich mehr Zeit, frühstückt vielleicht zusammen. Damit im Zusammenhang steht auch die Zeitspanne, die die Kinder in der Schule unter Belastung verkraften. Sie können unterschiedlich lange stillsitzen. Auch die zeitlichen Wechsel von Belastung und Entspannung sind von Kind zu Kind verschieden.
Unterschiedlich ist auch die Fähigkeit entwickelt, sich von einer Tätigkeit auf eine andere umzustellen. Ein Kind kann rasch ins Spiel kommen, das andere braucht dazu etwas länger. Bei Kenntnis dieser Tatsache und der individuellen Besonderheiten einzelner Kinder kann die Erzieherin im Hort ihre pädagogische Führung darauf ausrichten und entsprechenden Einfluß nehmen.
Besonders wichtig für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung ist die sogenannte Zeitperspektive der Kinder. Darunter versteht man, kurz gesagt, die Anwesenheit von Vergangenheit und Zukunft im Bewußtsein der Kinder bei der Bewältigung aktueller Situationen. Vorfreude zu empfinden oder das schon einmal Erlebte bewußt in die Beurteilung einer aktuellen Situation einzubringen, künftige Spiele zu planen und sich dabei an vergangene zu erinnern – das wird den Kindern durch diese sich immer weiter ausdehnende Zeitperspektive möglich. Neben der Ausdehnung ist der Realitätsgrad der Zeitperspektive zu bedenken. Hat das Kind eine realistische, „kühle“ Sicht auf die Wirklichkeit, oder ist seine Zeitperspektive durch illusionäre, fiktive Elemente bestimmt?/3, S. 70f./ Diese genannten vielfältigen Unterschiede im Zeitbewußtsein ergeben natürlich im Alltag, wenn das Kind mit einem zeitlichen Reglement, das für alle gleichermaßen gelten muß, konfrontiert wird, große Unterschiede im Zeiterleben selbst. Im Zeitbewußtsein, im Zeiterleben und der Zeitperspektive unterscheiden sich die Kinder stark von uns Erwachsenen. Das beständig zu bedenken, muß eine, wichtige Aufgabe für jeden Pädagogen sein, der den Tagesablauf für seine Kinder festlegt und jedem einzelnen hilft, sich darin zurechtzufinden. Die Mehrzahl der im Hort tätigen Erzieher hat erkannt, daß es sinnvoll ist, möglichst viel zusammenhängende Zeit für die Gestaltung der Freizeit, also auch für das Spiel, zur Verfügung zu stellen. Es ist durchaus möglich, daß die Erzieherin in diesem Zusammenhang die Eigenarten des Umgangs mit der Zeit bei den Schülerinnen und Schülern erfaßt. Es ist weiter möglich, daß diese Eigenarten bei der Interaktion mit den Kindern bewußt beachtet werden. Die Kinder tun dies in der Regel auch. Sie erfassen schnell, wann es hektisch zugeht, und spüren, wann Zeit nutzlos vertan wird.
Die Unterschiede bestimmen auch die Interaktionen der Kinder im Spiel. Die pädagogische Führung kann auch in dieser Hinsicht produktiv gemacht werden. Heißt das nun, daß die Kinder in ihren Eigenarten das Zeitregime im Hort bestimmen sollen? Keineswegs. Der Zeitablauf im Hort muß für die ganze Gruppe geplant werden. Dabei sind den individuellen Unterschieden aber Freiräume für ihre Entwicklung einzuräumen. Gerade im Spiel ist das gut möglich. Wo es nicht zu realisieren ist, muß beachtet werden, daß die Kinder dann auch unterschiedlich belastet sind durch die zeitlichen Anforderungen. Geschwindigkeit, das soll zum Thema Zeit noch gesagt werden, ist kein absolutes Erziehungsziel. Anzustreben ist der effektive Umgang mit der Zeit – und das geht nur, wenn man die Eigenarten des einzelnen im Umgang mit der Zeit beachtet.
Die Ordnung kindlicher Verhaltensräume
Der Alltag der Kinder hat nicht nur eine zeitliche Erstreckung und Struktur, sondern auch eine räumliche. Grob gesprochen besteht die Welt der Kinder aus verschiedenen Verhaltensräumen, in denen sie sich im Wechsel aufhalten (Wohnung, Umgebung der Wohnung, Schule usw.), aus „Zwischen-Räumen“, durch die man beim Wechsel der Verhaltensräume hindurch muß (Schulweg), und aus Verhaltensräumen, die dem Kind kaum zugänglich sind. All diese Verhaltensräume enthalten Dinge und Personen, und das Leben in ihnen wird durch Verhaltensregeln und -normen reguliert.
Diese und die Beziehungen der einzelnen Verhaltensräume zueinander werden für die jüngeren Schulkinder weitgehend von den Erwachsenen gestaltet und das Verhalten der Kinder so indirekt reglementiert. Eine wichtige Aufgabe der Kinder besteht u. a. darin, sich diesen Verhaltensräumen anzupassen, sich diese räumliche Gliederung ihrer Welt anzueignen. Selbst wenn sie sich, wie das bei Schulanfängern rasch der Fall ist, sicher in und zwischen diesen Räumen bewegen, haben die Kinder doch ihre eigenen Vorstellungen und Erfahrungen innerhalb dieser Verhaltensräume. So haben sie z. B. im Gegensatz zum Unterricht am Nachmittag Gelegenheit, den vorhandenen Handlungsraum entsprechend ihren Vorstellungen – natürlich müssen konkrete Bedingungen dabei berücksichtigt werden umzugestalten, zu verändern.
Das Spiel nimmt in diesem Zusammenhang noch eine besondere Stellung ein. Hier, bestimmt das Kind selbst, was und mit wem es spielt, wie es seinen Spielraum gestaltet und wie das Spiel verlaufen soll. Alle Verhaltensräume, in denen sich das Kind bewegt, finden im Spiel Berücksichtigung und werden auf kindspezifische Weise widergespiegelt bzw. für das Spiel genutzt. Nicht selten wird deutlich, was die Kinder besonders bewegt, was sie erfreut oder belastet. Es werden Konflikte deutlich, die sie in der Schule, im Elternhaus oder mit Freunden haben. Normen und Verhaltensweisen, die in anderen Verhaltensräumen selbstverständlich sind, werden irrelevant. Diese Vorstellungen, die das Kind vom Spiel hat, dürfen auf keinen Fall zerstört werden.. Die Möglichkeit, alle Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke im Spiel zu verarbeiten, muß dem Kind uneingeschränkt erhalten bleiben. Die Erzieherin hat durch zielgerichtete Beobachtungen ausgezeichnete Möglichkeiten zu erfahren, wie die Kinder ihre Verhaltensräume bewerten, wie sie sich mit ihnen identifizieren und darin zurechtkommen. Schlußfolgerungen für pädagogische Maßnahmen können abgeleitet, eventuell Konsequenzen gezogen werden.
Das heißt nun nicht, daß durch das Spiel die einzigen Möglichkeiten gegeben sind, für die Kinder gewisse „Freiräume“ während des Tagesablaufes im Hort zu schaffen. Erfolgreich arbeitende Erzieher haben seit Jahren gute Erfahrungen damit gesammelt, die Kinder weitestgehend in die Wahl der Freizeittätigkeiten einzubeziehen, ihre Interessen und Bedürfnisse zu berücksichtigen, den Tagesablauf mitbestimmen zu lassen (z. B. variable Gestaltung in Klasse 4). Dennoch ist der besonderen Rolle des Spiels bei der Gestaltung kindlicher Verhaltensräume größte Aufmerksamkeit zu schenken und bei der pädagogischen Planung genügend Zeit und Raum dafür zur Verfügung zu stellen.
Das System der Gegenstands- und Personbedeutungen
Was meint die Psychologie, wenn sie von dem „System der Bedeutungen“ spricht? Der große sowjetische Psychologe A. N. Leontjew erklärte das an einem konkreten Beispiel so: „Tatsache ist, daß ich, wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, diesen nicht nur in seinen räumlichen Dimensionen und in der Zeit, sondern auch in seiner Bedeutung wahrnehme. Wenn ich beispielsweise auf die Armbanduhr schaue, dann habe ich, genau genommen, kein Abbild der einzelnen Merkmale dieses Gegenstandes, ihrer Summe… Ich nehme nicht ihre Form wahr, sondern den Gegenstand, der eine Uhr ist.“ /4, S. 8/
Diese Welt der Bedeutungen müssen sich die Kinder in jeder Entwicklungsetappe, aufbauend auf dem bisherigen Verständnis, neu aneignen. Gestaltung des Alltags der Kinder im ganztägigen pädagogischen Prozeß heißt also, daß die Erziehungsabsichten in Gestalt von Gegenständen, die im Unterricht und im Hort den Kindern zur Verfügung gestellt werden, dort Mittelfunktion haben, gewissermaßen materialisiert sind. Spielzeug und Spielmaterialien im Hort haben für die Erzieherinnen z. B. die Bedeutung von Mitteln zur Entwicklung bestimmter Interessen der Kinder.
Diese Bedeutung haben sie für die Kinder in deren Wahrnehmung zunächst natürlich nicht. Sie können für die Erzieherin die Bedeutung von Mitteln zur Anregung von Tätigkeiten haben, die dem Kind Entspannung bringen. Das Kind wird zwar diese Entspannung im Spiel erleben, muß aber das Spielzeug nicht bewußt als Mittel zur Entspannung wahrnehmen. Diese Differenz zwischen den Systemen der Gegenstandsbedeutungen der Kinder und der Erwachsenen gilt es stets zu beachten.
Besonders deutlich wird diese Differenz bei den sogenannten Personbedeutungen. Das Bild, welches das jüngere Schulkind von seinen Bezugspersonen, der Lehrerin, der Erzieherin, dem Direktor, hat, muß nicht mit dem Bild übereinstimmen, das diese Personen von sich selbst haben.
Besonderes Gewicht bekommt diese Erkenntnis, wenn man bedenkt, daß die Vorstellung der Erzieherin, weiches Bild die Kinder von ihr haben, erheblich von der Wirklichkeit abweichen kann. So kann es passieren, daß sie meint, eine begehrte Mitspielerin zu sein (was auch oft der Fall sein wird), die Kinder in bestimmten Situationen jedoch ganz anderer Auffassung sind, das Spiel durch ihr Mittun sogar gestört wird. Oder, daß vermeintliche „schöne Spiele“ den Kindern vorgeschlagen und empfohlen werden, die jedoch dann wenig Interesse finden. Deshalb ist es wichtig, nicht von Gegenstand und Personen sich auszugehen, sondern immer auf der Grundlage der Analyse der Gegenstands- und Personbedeutung vorzugehen, um die Kinder mit neuem Spielzeug, mit Spielideen wirklich zu erreichen.
Es ist also eine bleibende Aufgabe, diese drei „Koordinaten“ (Zeitregime, Ordnung der Verhaltensräume, System der Bedeutungen), die für die Kinder, die Erzieher und – auf allgemeinster Ebene – die Gesellschaft unterschiedlich ausgebildet sind, zu beachten, zu vergleichen, wenn es um die Gestaltung des Alltags der Kinder, um die Entwicklung ihrer Spielkultur geht.
Für den Hort hat das noch eine weitere, eine historische Dimension. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Generationen der Kinder jeweils aufwachsen, weisen charakteristische Unterschiede auf. Die Frage, ob Kinder heute anders sind als vor 20 Jahren, ist nicht leicht zu beantworten. Manch Unterschied fällt ins Auge. Und doch bleiben Kinder stets Kinder und also über die Generationen in wichtigen Merkmalen gleich.
Dasselbe gilt für die Erzieherinnen. Jüngere Kolleginnen arbeiten heute gemeinsam mit älteren. Letztere haben nicht nur die größere Lebenserfahrung und pädagogische Praxis, sie sind in vielem, so wie die jüngeren, durch die Grunderfahrungen ihrer Generation, ihrer Zeit geprägt. Und so gibt es ganz natürlich Unterschiede in den Auffassungen zu wichtigen erziehungsrelevanten Sachverhalten (z. B. Kleidung und Mode, Ernährung, Geschlechterrollenstereotype, Technik und Kunst, Erziehungsstile und -methoden). Diese Unterschiede haben auch ihren Einfluß auf den Erziehungsprozeß. Oft unbemerkt werden so Einstellungen, Ansichten, Gewohnheiten weitergegeben, von Generation zu Generation. Wenn es gelingt, sich im Kollektiv auch über das Für und Wider der verschiedenen Ansichten auszutauschen, liegt darin eine große erzieherische Potenz. Wo das nicht so gut gelingt, hört man Äußerungen, die darauf hinweisen, daß Erzieherinnen die heutigen Kinder als sehr verschieden von denen der. vergangenen Jahre erleben, Meist als „schlimmer“, nervös, undiszipliniert usw. Das Problem ist dabei gar nicht, ob das richtig beobachtet wird. Die Differenz zwischen dem alten Bild vom Kind und dem erlebten Kind ist das Problem. Darüber muß viel mehr gesprochen werden, um eine angemessene Einstellung zu erreichen, die auch den Wandlungen in der Spielkultur gerecht wird.
/1/ Pätzolt, H.: Damit das Spiel persönlichkeitsfördernd wirkt. In: Ganztägige Bildung und Erziehung. – Berlin 27 (1989) 4.-5.99-103.
/2/ Autorenkollektiv unter Leitung von Kossakowski, A.: Psychische Entwicklung der Persönlichkeit im Kindes- und Jugendalter. – Berlin, 1987.
/3/ Schmidt, H.-D.: Grundriß der Persönlichkeitspsychologie. – Berlin, 1982.
/4/ Leontjew, A. N.: Psychologie des Abbildes. – Forum Kritische Psychologie 9. – Berlin-W., 1981.